Sonntag, 25. November 2018

Sinop und das berühmte Gefängnis









































Die Stadt besteht aus der Altstadt und der Neustadt, wobei wir erst durch die Vororte der Neustadt fuhren, bis zum nördlichsten Punkt, dort, wo sich die Landschaft wie eine Sanduhr in der Mitte verjüngt, um später wieder breiter zu werden. Die Altstadt befindet sich genau an dieser schmalen Stelle, auf der östlichen Seite, direkt am Meer. Die berühmteste Sehenswürdigkeit ist ein Gefängnis, das mindestens seit 1568 Zuchthaus benutzt wurde (die älteste Benennung durch Nutzung als Gefängnis ist 1568 datiert). Viele berühmte politische Andersdenkende und immer wieder Schriftsteller wurden dort inhaftiert. Sabahattin Ali ist einer von Ihnen, von dem wir an den Wänden vor seiner Zelle wunderbare Gedichte lesen konnten, die sich auch in vielen Liedern wiederfinden. Dazu aber gleich mehr.

Tarihi Sinop Kapali Cezaevi, das Gefängnis, das Zeitweise auch als Alcatraz der Türkei genannt wurde, ist 1999 geschlossen und zu einem Museum umgewandelt worden. Die Burg, in die das Gefängnis gebaut ist, wurde vor ca. 4000 Jahre vermutlich von Kaschkäer erbaut.(Infos zu Kaschkäer) Alle nachfolgenden Reiche haben ihn erhalten und weiter ausgebaut. 

Wir fragten einen Mann, der an der Tankstelle arbeitete, nach dem Weg, um herauszufinden, ob wir mit den Kindern zu Fuß hingehen konnten. Er war genervt und zeigte uns seinen Unmut, was man von den Türken an sich nicht kennt. Nur seine Abneigung fiel nicht auf uns oder auf unsere Frage; sie galt rein dem Gefängnis, wo er vier Jahre bis zu seinem 18. Lebensjahr verbracht habe, wie er uns dann erzählte. „Was wollt ihr da? Geht ans Meer, genießt die Natur.“ Dann schaute er auf seine Füße und wir schwiegen betroffen. Doch dann hob er den Kopf, lächelte und beschrieb den Weg: „Die Straße entlang, dann kommt ihr genau am Eingangstor. Ist nicht weit.“ Das Land ist noch voll von Menschen, die hier gesessen haben. 

Das Gefängnis besteht aus mehreren Gebäuden, die, wie der Turm, in die Stadtmauer integriert sind. Im ersten, von der Straße aus, waren Kinder und Jugendliche untergebracht. Danach läuft man durch eine schmale Gasse zu den eigentlichen Gefängnis-Gebäuden. Vor dem Tor dahin sahen wir den kleinen Laden, worin der typische Glasperlenschmuck der Insassen verkauft wird. Der Verkäufer empfing uns freundlich und bat, die Ware nicht durcheinander zu bringen, weil sich dort Nummern befinden, von Häftlingen, die sie gemacht hatten. Der Erlös gehe direkt an sie. Er sei Beamter und beziehe sein Gehalt vom Staat. Und da standen wir inmitten glitzernder Glasperlen-Figuren. Hier eine Schildkröte, da Delphine, Micky Maus, Fußballwappen, Handtäschchen und Armbänder. Wir kauften reichlich ein, Mitbringsel für Familie und Freunde.  An der Kasse hat er die Nummer in einer dicken Kladde aufgeschrieben. Hinter jeder Nummer ein Mensch, der irgendwo in einem Gefängnis sitzt und aus Glasperlen Figuren herstellt, um sich die Zeit zu vertreiben und etwas Geld zu verdienen. Weswegen sie sitzen steht da nicht drin. Vielleicht sind Mörder darunter, Betrüger, Diebe aber auch politisch motivierte Gefangene? Aber hier in diesem Laden wird nach Gefallen oder Nichtgefallen der Arbeiten beurteilt. Mit schwer beladenen Tüten und Eindrücken verlassen wir den Laden.































Der schmale Gang brachte uns durch die Verwaltung hindurch zu einem schönen Garten, wo ein alter Maulbeerbaum stand, der, wie alles an diesem traurigen Ort, seine eigene Geschichte hatte. Dazu erzähle ich gleich mehr. Wir besichtigten die alten Gemäuer, worin die Gefangenen in großen Einheiten gelebt hatten, in den „Koğuş“. Das waren große Zimmer mit Etagenbetten, teilweise dreistöckig mit gemeinsamer Kochecke und Toilette. Hier bildeten sich Freundschaften wie Feindschaften; es gab eine Hackordnung, die ich aus Filmen oder in Büchern kannte.

Wir gingen Haus für Haus durch, besuchten die schmalen Einzelhaftzellen mit der schweren Eisentür zum Korridor. Gegenüber der Tür war ein Plumpsklo eingelassen, ähnlich wie das aus meiner Kindheit im alten Haus im Dorf: ein aus grauem Stein ausgehauenes Loch, mit zwei Fußstellen, worin grobe Ritzen gekerbt waren. An der schmalen Wand war ein Waschbecken, ebenfalls aus Stein; ihm gegenüber eine Metallpritsche. Der Boden schwarz und modrig. Wenn die Tür zu war, kam kein Sonnenlicht herein. Fenster gab es nur im Korridor. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne herunter.

Die Gemeinschaftsräume dagegen waren im Verhältnis wohnlicher. In einem dieser Häuser waren die Gedichte aufgehängt. Die Zelle des berühmten Dichters Sabahattin Ali, mit seinen persönlichen, spärlichen Möbeln ausgestattet. Es kam uns Musik entgegen, eine Vertonung seines Gedichtes. Ali war sehr lange eine persona non grata in der Türkei. Er wurde inhaftiert, weil er den Staatsgründer Atatürk angeblich beleidigt hatte. Später wurde er auf der Flucht ermordet. Bis heute weiß man nichts Näheres über seinen Tod und auch nicht, wo er begraben liegt. Aber die ehemalige Zelle ist hübsch aufgebaut. Im Flur davor hängt sein Portrait, mit Lebenslauf und Gedichten. Darunter auch eins, das er hier in diese Gefängnis geschrieben hatte. Aldirma gönül: „Dışarda deli dalgalar. Gelir duvarları yalar“, (Draußen verrückte Wellen, kommen, um an den Mauern zu lecken)



Das berühmte Gedicht Sabahattin Alis "Aldirma Gönül", das er im Gefängnis in Sinop geschireben hat. Gesungen von Edip Akbayram.

Im Hof bei den Gemeinschaftsräumen stand oben erwähnter Maulbeerbaum, dessen Früchte mit jedem Windzug herunter regneten. Seine Geschichte stand auf einer Tafel wie folgt geschrieben: Ein Gefangener bat um Erlaubnis, einen Maulbeerbaum im Hof des Gefängnisses pflanzen zu dürfen, als Trost für all diejenigen, die hier sitzen und die um ihr Leben bangen mussten, denn damals gab es noch die Todesstrafe. Sie sollten sich sagen: „der Mann, der diesen Baum gepflanzt hat, ist nicht erhängt worden. Er ist hier lebendig rausgekommen. Das werde ich auch.“ Tatsächlich ist der Baum genehmigt und sein Ideengeber nicht erhängt worden. Und so spendete er uns unter der heißen Mittagssonne Schatten, denn die Kinder wollten nicht jede Zelle besichtigen. Sie langweilten sich. Sie wollten lieber die frisch heruntergefallenen Maulbeeren aufsammeln und essen. 

Abends suchten wir ein sehr gemütliches Restaurant, wo die typischen „Sinop Mantı“ frisch gemacht und serviert wurde. „Mantı“ ist eine Art Ravioli, die hier mit Walnüssen serviert wird.



Zum Abschluss ein Gedicht Alis, gesungen von der türkishen minik Serce (kleiner Spatz) Sezen Aksu



Donnerstag, 15. November 2018

Taşköprü und Knoblauch






































Die Provinz Kastamonu ist berühmt für die besonders „grobe“ Betonung der Sprache; Kastamonu, dort, wo das Ende eines Wortes oder Satzes in ein U übergeht und dort, wo die Menschen mit Bären verglichen werden, weil es dort eben diese dichten und unbewohnten Laubwälder gibt, wo diese Tiere leben. Zwei meiner Tanten sind mit Männern aus Kastamonu verheiratet, nur kannte ich weder den Ort noch die Gegend. Der Wald ist wild aber zugleich auch von einem Grün, das nie wechselt, nicht reflektiert, nie anders wird, sehr gradlinig und konsequent ist in seinem Farbton. Kilometerlang das gleiche, einfache Grün der Bäume, das in der Sonne nicht heller wirkt. So ein dichter Wald, Blatt an Blatt ganze Berge entlang, wo nichts auf den Boden fallen würde, wenn der Herrgott etwas herunterfallen lassen sollte, waren meine Gedanken.

Da musste ich unweigerlich an Heredot denken, der behauptet haben soll, ganz Anatolien wäre so grün bebaumt, dass ein Affe, würde man ihn in Byzanz (heute Istanbul) auf einen Baum setzen, seinen Weg von Ast zu Ast bis zum Mittelmeer machen könnte, ohne jemals den Boden zu berühren. Viele sagen zwar, Heredot wäre jemand, der extrem übertreibt, wenn nicht gar ein Lügner war, doch in dieser Hinsicht hatte er vermutlich recht. Möglicherweise war das ganze Land so dicht bewaldet. Ich hatte an einer anderen Stelle gelesen, dass die Römer ganz Anatolien abgeholzt hätten, um Marmorblöcke besser transportieren zu können. Sie hatten diese auf Baumstämme gelegt und darauf gerollt. Das war die erste menschlich erzeugte Naturkatastrophe. Anscheinend waren sie hier in der Gegend nicht, oder nicht lang, die Römer.

Die Hitze draußen war unerträglich. Wenn ich es hier im Blog immer wieder erwähne, will ich es wiedergeben, was bei uns im Auto immer so das „Top-Thema“ war: „çok sıcak“, „sehr heiß“! Das ist der häufigste Satz, den man in der Türkei im Sommer hört. Doch im vergangenen Sommer hörte ich es ebenfalls in Deutschland und musste schmunzeln. Aber nun weiter mit der Reise. Es war sogar so warm, dass der Asphalt sich aufgelöst hatte. Wir verließen den grünen Berg und kamen auf eine Ebene. Die Autoreifen hinterließen tiefe Rillen auf dem aufgeweichten Belag. Aussteigen unmöglich. So fuhren wir eine Weile, bis wir aus Taşköprü den berühmten Knoblauch holten, der uns die ganze weitere Fahrt über begleiten sollte.





Taşköprü hat den Namen von einer alten Steinbrücke über einen kleinen Fluss, der vermutlich die meiste Zeit im Jahr ausgetrocknet ist. Seit meine Schwester auf Google gesehen hatte, dass dieses Knoblauch-Mekka sich auf unserem Weg befindet, erzählte sie, wie sie auf dem Wochenmarkt in Istanbul diesen berühmten Knoblauch gekauft hatte, der besonders dicke Zehen gehabt hätte. Sie beschloss einstimmig, dass wir auf jeden Fall von dem Knoblauch kaufen sollten, ein Mitbringsel für die große Familie. Wir fuhren dann von der Landstraße ab, Richtung Taşköprü, auf ein bereits abgeerntetes Plateau. Im Auto diskutierten derweil meine Schwester und ihr Mann, ob sie nun den Knoblauch vom Straßenrand nehmen oder direkt aus der Stadt kaufen sollten. Da entschieden sie, dass wir zum Dorf - denn es war keine Stadt, sondern ein größeres Dorf - hineinfahren. Wir fuhren aber gerade an der alten Steinbrücke vorbei, die wir überqueren mussten, um ins Dorfzentrum zu kommen. Eine kurze Aufregung seitens meiner Schwester, dass wir die Ausfahrt verpasst hätten. Mein Schwager fuhr weiter, wo wir etwas mehr als einen Kilometer entfernt die breite, neue Brücke sehen konnten, auf die dann mein Schwager rechts abbog. Kaum waren wir auf der Brücke, warf meine Schwester ein, warum wir nicht die alte Brücke nehmen, wenn wir schon hinfahren. Mein Schwager machte darauf einen U-Turn, um wieder auf die Landstraße zurück zu kommen, wo wir abgefahren waren. Da mischte ich mich ein, dass es doch unnötig sei umzukehren, schließlich liefe die alte Brücke nicht davon, wir hätten noch die Möglichkeit, den Rückweg über sie zu nehmen.  Mein Schwager umrundete den Kreisverkehr erneut, um wieder auf die Brücke zu kommen und schlussendlich über sie ins kleine Städtchen zu fahren.



Knoblauchernte, Quelle: Youtube

Infos-Link Tasköprü

In den Straßen herrschte gespenstische Ruhe. Wir fanden schnell den Umschlagplatz für den Knoblauch: eine weitläufige Fläche, vielleicht zwei Fußballfelder groß, wo Bauern ihre Ware an Großhändler feilboten. Noch war kein Betrieb. Nur ein Traktoranhänger stand am Straßenrand und wir fuhren zu ihm. Als wir die Autotüren öffneten, mischte sich die Höllenhitze mit Knoblauchduft. Ohne lange zu weilen, kauften wir von den drei Männern fünf Kilo erntefrischen Knoblauch. „Bitte die Knollen nicht in der Tüte lassen. Sie sind frisch geerntet und müssen noch atmen. Also, alle zwei Stunden an die Luft rausstellen!“ Der Rat des alten Bauern, der uns dann die Tüte mit dem Knoblauch mitgab.

Von dem Moment an wurde der Knoblauch unser Begleiter. Um die Geschichte an jedem Ort, den wir danach besuchten, nicht erneut erzählen zu müssen, fasse ich alle Ereignisse mit dem Knoblauch hier zusammen. An unserem nächsten Hotel hatten wir französische Fenster, die bis zum Boden ragten und draußen ein Geländer hatten. So war das perfekt für den Knoblauchsack, der die Nacht nicht im Auto bleiben konnte. Er reiste mit uns ins Hotel. Am zweiten Hotel, wo wir nachts mit kühlem Regen ankamen, hatten wir diese Möglichkeit nicht. Auf das Zimmer wollten wir ihn nicht mitnehmen. So baten wir den jungen Rezeptionisten um Hilfe und er deponierte ihn in der Hotelküche. Spätestens jetzt wird sich der Leser fragen, ob wir nichts gerochen haben. Fünf Kilo Knoblauch, dessen Lauch noch feucht war, das riecht. Anfangs war der Geruch im Auto sehr stark. Doch mit der Zeit verschwand er, worüber wir uns selber wunderten. Das war allerdings ein Trugschluss, denn die ganze Familie rümpfte die Nase, als wir nach drei Tagen und zwei Nächten in Begleitung der Knolle endlich bei uns im Dorf ankamen. „Alles stinkt, ihr stinkt bestialisch!“, sagten sie. Wir hielten es jedoch für sehr übertrieben. Wir selber rochen nichts. In Taşköprü haben wir den Geruch selber sehr stark wahrgenommen. Die Luft roch danach, als wir aus dem Auto ausstiegen. Und es stimmte nicht, dass die Zehen besonders dick waren. Im Gegenteil, dieser Knoblauch hatte besonders kleine Zehen, dafür war er sehr scharf und aromatisch und intensiv im Geschmack. Meine Schwester wurde eindeutig auf dem Wochenmarkt betrogen. Immerhin hat dieser Betrug uns dieses wundervolle Reiseerlebnis beschert.


Das Lied "yesil ördek" war eines der Lieblingslieder der Kinder. Vermutlich weil es darin eine grüne Ente geht. 

Nachdem wir über die neue Brücke eingefahren waren, nahmen wir auf dem Rückweg die alte Steinbrücke und verließen Taşköprü. Die Hitze war so unerträglich, dass die Kinder freiwillig im Auto bleiben wollten, wenn wir anhielten, um vom Meer oder der Gegend Fotos zu machen.


Sonntag, 11. November 2018

Zonguldak







































Von Amasya machten wir uns auf den Weg nach Sinop, doch unterwegs hatten wir noch ein paar weitere Orte und Sehenswürdigkeiten vor uns. Im Auto hörten wir immer abwechselnd die Lieder, die mit Hayde anfingen, denn das war das Opening, wenn wir nach einem längeren Aufenthalt wieder losfuhren. Dann wechselten die Lieder wieder unter uns Erwachsenen, während die Kinder beharrlich bei ihren wenigen blieben. Neulich telefonierte ich mit meiner Schwester, die mir erzählte, ihre Tochter Zeynep hätte sie angesprochen, dass sie schon so lange keinen Ed Schareen – Song mehr gehört hätte. Diese Reise hatte also bei den Kindern ebenso tiefe und fortbleibende Erinnerungen hinterlassen.



Im Auto saß ich hinten links, hinter dem Fahrer. Ich hatte einen Vorzugsplatz, sagte aber nichts. Und so konnte ich meinen Blick auf dem türkisfarbenen Meer weilen lassen, soweit mein Auge reichte. Wir fuhren an der Schwarzmeer-Küste entlang, von Westen nach Osten. Im Horizont vermischten sich die blauen Farben, die des Meeres mit denen des Himmels. Warum nannte man dieses lieblich funkelnde Azur das Schwarze Meer? Das machte keinen Sinn, denn hier war nichts schwarz. Die Fläche vor mir war changierend, in den Tiefen dunkel, zur Bucht hin ein bezauberndes Türkis, das ich von Karibik-Fotos kannte. Wellenlos lag es da, während wir an den steilen Küstenhängen entlang, mal auf mal ab, fuhren. Ab und zu hielten wir an um zu fotografieren, doch die Fotos waren nicht in der Lage das wiederzugeben, was das Auge sah. Dieses Meer sollte uns noch lange begleiten, zunächst bis nach Zonguldak.



Infos zu Zonguldak:


Kultur und Geschichte Zonguldag
Reiseführer Zonguldag
https://de.wikipedia.org/wiki/Zonguldak_(Provinz)


Zonguldak hatte ich zuletzt in meiner Kindheit besucht, in einem Dampfzug, in Begleitung meines Onkels Ensar, der eine Sauberkeitsmanie hatte. Er hatte mich prompt beschimpft, weil ich mich mit meiner weißen Hose einfach so im Zugabteil auf eine Sitzbank gesetzt hatte. Er hingegen hatte sein großes Stofftaschentuch aus der Hosentasche geholt, um das Sitzpolster zu putzen. Aus dieser Stadt konnte ich nur diese eine Erinnerung mitnehmen. Etwas Besonderes gab es dort nicht. Ein kleiner Hafen und ein Bahnhof mit den rauchenden Dampfzügen.


Zonguldak, 1977; Quelle: Internet (eski Fotograflar)


Diese Züge waren leider verschwunden. Auf den Gleisanlagen von damals wuchs Gestrüpp und Gras. Der alte Hafen lag in einem Dornröschenschlaf. Alte Fischerboote schaukelten hin und her. Die Altstadt war klein mit engen Gassen, wo Handwerker nach wie vor ungestört von der Moderne oder besser noch, die Moderne ignorierend ihr Handwerk ausübten. Dazwischen kleine Teehäuser, wo sie sich auf einen Plausch trafen. Die Häuser schief, klein, manche ungeputzt oder der Putz bröckelig. Wir fuhren nicht hinein, denn da sollte man zu Fuß hingehen, um die Atmosphäre mitzubekommen. Doch die Kinder hatten Hunger, es war ein unglaublich heißer Tag. Wir machten Halt an einer breiten Straße, etwas entfernt in der Neustadt, die sich auf die umliegenden steilen Hügel ausdehnte. Früher waren dort höchstens ein paar Bergdörfer, soweit ich mich erinnern konnte. Aber, ich konnte auch ohne große Erinnerung sehen, dass die Bauten an den Berghängen neueren Datums waren. Die typische lieblose Architektur, die nicht mal einen richtigen Namen hat. Aber, wenn man mal in der Türkei gewesen ist, weiß man, was ich damit meine. Es ist dann egal in welcher Stadt man ist, denn diese Häuser sehen überall gleich aus.

Wir verließen das Stadtzentrum in Richtung Tropfsteinhöhlen, die unser nächstes Ziel werden sollten. Bevor ich von der Höhle berichte, muss ich eine kleine Anekdote loswerden, die uns im Auto erheiterte. Als wir aus der Stadt hinausfuhren, sahen wir ein Hinweisschild zu den Tropfsteinhöhlen Gökgöl. Man muss sich diese Stadt, auch wenn sie in den letzten Jahren durchaus größer geworden mag, nicht so vorstellen, dass man darin verloren gehen kann. Es gibt dort eine Hauptstraße, eher eine Landstraße, die durch die Stadt hinein- und wieder hinausführt. So hatte uns dieses Hinweisschild darauf hingewiesen, weiter zu fahren, was wir auch eine Weile taten. Als kein weiteres Schild zu sehen war, beschlossen wir, jemanden nach dem Weg zu fragen. Wir näherten uns einem älteren Mann, der uns dann freundlich und überschwelgend Auskunft gab. Laut seiner Aussage waren wir ganz nah dran, nur 300 Meter noch und dann auf der linken Seite würden wir den Eingang sehen können. „Und bitte, besuchen Sie auch unser Museum für Kohleabbau!“, empfahl er uns, vermutlich weil er den großen Teil seiner Jugend im Bergbau gearbeitet hatte. Zonguldak ist einer der Städte, in der bereits sehr früh Kohle abgebaut wurde. Hier wird Kohle „schwarze Perle“ genannt und einige der Zechen sind nach wie vor aktiv. Hinzu kommt, dass ein in der Türkei sehr berühmter Film ebenfalls hier gedreht wurde. Wir sprachen darüber im Auto, während wir weiterfuhren, doch auch nach gefühlten 1000 Metern war keine Höhle zu sehen. Wir hielten an und fragten einen anderen Mann am Straßenrand. Er bestätigte die Richtung, nur müssten wir knapp zwei Kilometer weiterfahren, erst dann käme die Einfahrt zur Höhle. Wir hielten uns genau an die Aussage des Mannes, doch kein Zeichen von der versprochenen Höhle. Wir hielten abermals an und fragten erneut einen Passanten. Auch er sagte, wir wären richtig, nur müssten wir noch etwa 800 Meter weiterfahren. Schlussendlich fanden wir die Höhle, aber wir lachten über die Angaben der Entfernungen.






Die Tropfsteinhöhlen waren erst letztes Jahr für Besucher geöffnet worden. Vor dem Eingang hatten wir ein Café erwartet, was es so nicht gab. Eine portable Toilette, die zu einer permanenten umgewandelt wurde, allerdings sehr unbrauchbar war (weitere Details erspare ich an der Stelle). Etwas abseits stand ein schief zusammengezimmerter Tisch mit zwei ebenso schiefen Sitzbänken, worauf zwei große Flaschen Cola standen. Zwei Männer saßen da und beobachteten uns. Wir fragten sie, ob es etwas Größeres gäbe, ein Café oder etwas Ähnliches, doch beide verneinten. Sie seien noch nicht so weit. Die Höhlen könnten wir besichtigen, und wenn wir wollten, könnten wir auch kurz bei ihnen Platz nehmen. Sie würden dann aufstehen. Wir bedankten uns und liefen direkt auf den Eingang der Höhle zu. Der ältere stand auf und begleitete uns ca. 50 Meter. Dann blieb er vor uns stehen und beäugte uns streng ob der sommerlichen Bekleidung. „Da drinnen ist es sehr kalt. Die Kinder sollten wenigsten etwas zum Anziehen mitnehmen“, empfahl er. Wir liefen zum Auto zurück und nahmen Strickjacken mit, wobei ich mir in diesem Moment, bei 40 Grad im Schatten, keine Kälte vorstellen konnte. Ich habe sogar an die typisch türkische Übertreibung gedacht, wenn es um Kälte geht. Doch es gab eine spürbare Klimaänderung, die etwa 20 Meter entfernt des Einganges zu spüren war. Die feuchte Kälte strömte uns entgegen wie ein kalter Atem. Da zogen wir eilig die Jacken an.

Da die Höhle neu eröffnet wurde, waren wenig Besucher da. So wurden wir vom Ticketverkäufer freundlich empfangen. Er gab uns Helme, denn an manchen Stellen hing die Decke richtig tief. 1,6 km sei der Weg lang, auf den wir uns begaben. Vorher ließen wir uns von ihm noch am Eingang fotografieren. 

Die Tropfsteinhöhle selbst ist insgesamt 3350 Meter lang. Die ersten 800 Meter sind begehbar, durch aufgeschüttete Wege und Brücken, die teilweise über einen unterirdischen Bach führen. Eine Landschaft wie aus einem Film, vermutlich auch durch die Beleuchtung diesen Effekt gewinnend, eine Zauberwelt, die teilweise an das innere eines Lebewesens erinnert, wo wir Organe zu sehen glaubten, ein rotes Herz, zwei blaue Lungenflügeln, teils allerdings an etwas überirdisches, eines Planeten in einer fremden Galaxie, mit Säulen und alleinstehenden Figuren in einer kahlen Steinwüste. Wir waren fast alleine unterwegs, und das beflügelte unsere Fantasie vermutlich umso mehr, weil wir ungestört darin flanieren konnten. Der Weg ist kein Rundgang, so dass wir bis zum Ende des Weges gingen, der auf einer Erhöhung endete, an einen Berg mit einer Aussichtsplattform erinnernd. Von da aus konnten wir ins tiefe Dunkle hineinblicken, wohin der weitere Verlauf der Höhle lag.

- Volkslied aus der Gegend Zonguldak -




Nach dem Besuch der Höhlen setzten wir unsere Reise fort. Dieses Mal nicht am Meer entlang, sondern durch die Berge und Wälder, durch einen Nationalpark mit dichten, grünen Laubbäumen und scharfen Serpentinen, die ein Überholen unmöglich machten. Der Weg erforderte vom Autofahrer die volle Aufmerksamkeit, die Insassen wie mich begeisterte das Laubgrün der Bäume. Es war alles so unglaublich dicht, dass ich nie das Braune der Stämme oder der Äste sah. Wir fuhren lange durch diese irre Landschaft, wo keine menschliche Behausung zu finden war, nicht mal eine Tankstelle. Wir waren in der Wildnis, woran uns die Warnschilder nach Bären erinnerten. Es ist also wahr, wenn die Menschen aus Kastamonu in ihrem groben Dialekt „Vorsicht, es kann dir ein Bär begegnen“ sagen. Nun, wir sind hier in den Bergen von Kastamonu, wo tatsächlich Bären leben. Aber, wir sind ja im Auto unterwegs und halten wollen wir hier auch nicht.



Der Weg ist immer das Ziel

Am nächsten Tag, kurz vor der Abreise, sind wir zu den drei konischen Grabstätten (Kümbet) gegangen, die aus der Zeit der Seldschuke...