Sonntag, 23. Juni 2019

Der Weg ist immer das Ziel




Am nächsten Tag, kurz vor der Abreise, sind wir zu den drei konischen Grabstätten (Kümbet) gegangen, die aus der Zeit der Seldschuken stammen. Vieles konnten wir nicht richtig besichtigen, denn sie wurden restauriert. Die Läden in der kleinen Gasse machten gerade auf. Vor einem stellte der Verkäufer seinen Souvenirs-Ständer vor die Tür. Meine Schwester schaute sich mit den Kindern die Sachen an, während ich mit Murat, meinem Schwager, etwas abseits die drei Kümbets fotografierte. Dann kamen zwei Männer auf uns zu und brachten zwei kleine Hocker. Wir sollten Platz nehmen und mit ihnen Tee trinken. Diesen hätten sie gerade frisch zubereitet. Wir wollten aber losfahren und mein Schwager versuchte nach Kräften abzuwehren, doch die Gastfreundlichkeit ist hier unheimlich stark. Wir gaben nach. Und warum auch nicht? Wir nahmen Platz, die Gastgeber setzten sich dazu und wir unterhielten uns. Touristen kämen nicht mehr viele. Im Winter kämen schon welche zum Skifahren, aber diese würden in All-Inclusive-Hotels untergebracht und würden auch sonst ihren Berg und ihr Skigebiet nicht verlassen. Die Stadt hätte nichts von ihnen. Doch beklagen wollten sie sich trotzdem nicht. Es ginge Ihnen gut soweit, sie hatten ihre kleinen Läden, wo sie Wasser und diese Souvenirs verkauften. 








Diese Unterhaltung tat uns gut. Wir hatten uns auf etwas eingelassen, uns nicht nur von den eigenen Vorstellungen treiben lassen, sondern hatten uns eben an äußerliche Gegebenheiten angepasst. Wir hatten bisher diese Art von spontanen Einladungen vehement abgelehnt und stets unseren Plan eingehalten, der zwar zeitlich nicht mehr so passte wie ursprünglich geplant, aber immerhin bestimmten wir ihn selbst. Nun saßen wir auf niedrigen Höckern und tranken Tee mit den beiden Männern, deren Augen irritierend-schöne Farben hatten, ein heller Bernstein, das fast ins Grün-Blaue rutschte. Zugegebenermaßen hatten sie ihre besseren Zeiten hinter sich, im Mund fehlte der ein oder andere Zahn, aber die Augen waren nach wie vor schön anzusehen. „Vor allem die ausländischen Touristen bleiben aus. Früher habe ich Touren organisiert. Im Sommer hatten wir sehr viel zu tun. Aber jetzt haben wir diese kleine Hütte, wo wir einheimischen Besuchern Souvenirs verkaufen“, erzählte einer der beiden.




























Wir verabschiedeten uns und setzten unsere Reise fort. Die steilen Berge gab es nicht mehr. Nun waren wir auf dem anatolischen Hochplateau und fuhren durch changierende Farben dieser Landschaft Richtung Sivas. Die Sonne schien, die Straße fast leer, nirgends eine Bebauung, sie ist neu, es haben sich noch keine Tankstellen und die üblichen Rastplätze angesiedelt. So hatten wir unsere Mühe, für einen kurzen Aufenthalt etwas zu finden, wo wir einen Tee trinken konnten. Dann sahen wir in der Ferne einen Flachbau und wir fuhren auf den Parkplatz, wo sonst kein Auto stand. Draußen sengende Hitze, drinnen im Laden angenehm kühl. Es war kein Restaurant, oder Café, was wir erwartet hatten. Es war ein großer Einkaufsladen, der Produkte aus der Region bot. Trockenobst, Sirup, „eau de cologne“ aus Tabak, „Lokum“, auch „Turkish Delight“ genannt, eingelegtes Gemüse in Gläsern. Wir fragten nach Tee, den sie nicht fertig hatten, aber einen Kaffee, einen türkischen Mokka könnten Sie uns schnell zubereiten. Zwei junge Frauen und ein Mann standen hinter der langen Theke. Ein Familienbetrieb, so neu mit viel Liebe aufgebaut, die Produkte sahen jedenfalls einladend aus. Wir durften probieren und kauften reichlich ein. Draußen im Schatten tranken wir unseren Mokka. Dann brachte uns der Mann den Tee. Sie hatten ihn doch noch aufgesetzt, obwohl wir uns für den schnellen Kaffee entschieden hatten. 




























Wir freuten uns und tranken den Tee, den wir nicht bezahlen durften. „Das geht aufs Haus, seien Sie bitte unsere Gäste.“ Wir bedankten uns bei diesen großartigen Menschen, denn wo werden Fremde so empfangen, seien sie auch nur Kunden. Ich verstand so langsam diese innige Menschlichkeit, denn auch wenn man Geschäfte betreibt, ist der Kunde ein Mensch. Es kommt also darauf an, sich auf dieser Ebene zu begegnen, jemanden eben nicht nur als Geschäftspartner zu sehen, sich ebenfalls nicht nur als solche zu begreifen. Diese Herzlichkeit, die unaufdringlich ist und mich zu tiefst berührt hat. Falls jemand in der Gegend sein sollte: bitte hier einkehren.


Im Auto unterhielten wir uns lange darüber, denn auch meine Schwester und mein Schwager waren beeindruckt. In den großen Städten ist diese menschliche Innigkeit verloren gegangen, oder verschwunden, so dass diese Beiden so etwas selten erlebten. Und an Orten, an denen es viel Tourismus gibt, sind die Menschen ganz anders. „Wir können nur hoffen, dass sie das in Anatolien immer beibehalten.“ Dem kann ich zustimmen. Aber vielleicht könnten wir daraus lernen, diese Gabe wieder in uns aufkeimen zu lassen.







Montag, 13. Mai 2019

Erzurum


Irgendwann hörten die Felsen auf und eine Weite öffnete sich, flach begrünt, doch das Grün nicht tief und dunkel wie an der Küste, sondern mit einem Hauch Gelb gemischt. Der Himmel dagegen fleckenlos blau, die Sicht sehr weit. Wir sind in der Hochebene von Erzurum angekommen. Obwohl alles so flach ist, liegt Erzurum auf knapp 1900 Höhenmetern.
Wir fanden unser Hotel an einer großen Straße. Eigentlich ist es ein „Lehrer-Haus“, so wird es zumindest genannt, eine staatlich geförderte Übernachtungsmöglichkeit für Beamte, wie Lehrer es hier alle sind. Uns wurde es von einer Arbeitskollegin von Murat empfohlen, weil das Haus zentral gelegen ist. Später sahen wir, dass es auch andere Hotels gab. Also muss man nicht unbedingt dort schlafen, was für uns aber soweit OK war, bis auf die Hellhörigkeit der Wände und den renovierungsbedürftigen Zustand der Sanitäranlagen. Dass wir in der Nacht nicht gut schlafen konnten, lag an der Höhe, wie ich am nächsten Tag von meinem Mann erfahren habe. Aber zuvor waren wir in einem traditionellen Restaurant „Cağ kebabı“ essen. Man nimmt Platz und es werden Vorspeisen wie Salat, Joghurt und die rote scharfe Pasta bestellt. Dann geht der Kellner mit einem Silbertablett herum, worauf Fleischspieße gehäuft sind, die er auf die Teller verteilt. Das Fleisch ist auf sehr dünne, an Stricknadeln erinnernden, Spieße aufgespießt, das von einem großen Fleischhaufen geschnitten wurde, der - ähnlich wie der Döner gedreht – hier aber horizontal am Feuer gebraten wurde. Es schmeckte köstlich. Es gab dünnes Fladenbrot, womit wir kleine Pakete machten und damit Fleisch, Salat und Soße einpackten und umwickelten. Und wenn der Teller mit dem Fleisch leer war, kam der Kellner erneut vorbei, bis man ihm signalisierte, dass man satt war. Abgerechnet wurde nach der Anzahl der Spieße.



Nach dem Essen machten wir uns auf in die Stadt, wo tagsüber an die 35°C herrschten. Doch abends kühlte die Temperatur auf gerade mal 17°C runter und wir begannen mit den sommerlichen Kleidern an zu frieren. In einem Strumpfladen kaufte ich dicke Strumpfhosen für mich und für meine Tochter und erst als wir sie angezogen hatten, gingen wir in die Altstadt. Die Altstadt war klein und ein wenig heruntergekommen, doch dann öffnete sich das Haus der „Erzurum Evleri“.
Tatsächlich sind darin alte Behausungen, samt Gassen dazwischen, zu einem lebendigen Museum zusammengelegt und restauriert worden. In der Halle, der Empfangsraum eines Herrenhauses, gab es ein Restaurant mit unterschiedlichen Tischen und Sitzmöglichkeiten, je nachdem mit wie vielen Leuten man dort zu Gast war, wo man sich wohl fühlen würde. Im hinteren Raum, erreichbar über ein paar Stufen, ein großer Saal; dort waren Tische wie zum Bankett aneinander gereiht, in der Mitte jedoch viel Platz. An der Wand brannte Holz in einem großen Kamin. In der rechten Ecke waren Musiker untergebracht. Sie spielten volkstümliche Lieder aus der Gegend. Die „Dadaş“, die Bevölkerung hier wird so genannt, sind durchaus konservative aber sehr herzliche Menschen, die ebenso keinerlei Vorteile oder Berührungsängste gegenüber Fremden zu haben scheinen. Zumindest hatte ich diesen Eindruck. Das mag daran liegen, weil Erzurum an der Seidenstraße liegt und als Rastplatz errichtet wurde. Davon zeugt die große Karawanserei, die es zu besuchen gilt. Aber noch sind wir in den „15 Häusern“. Es gibt im Vorraum kleinere, plüschige Ecken und Sofas, die  für Paare sehr einladend wirken. Auf den Emporen links gab es eine Art „Hochnest“, erreichbar über drei Stufen, wovor die Schuhe ausgezogen werden mussten, denn oben ist das Nest mit Teppichen und Kissen ausgelegt. In der Mitte ein großes, mit traditionellen Mustern gestochenes Kupfertablett auf einem 6-Fuß-Ständer, wo man im Schneidersitz die Mahlzeiten zu sich nimmt. Wir wählten diese traditionelle Sitzweise, zogen unsere Schuhe aus und machten es uns gemütlich. Die Kinder setzten sich auf die Stufe, die wie ein kleines Sofa an der Wand ausgelegt und mit bunten Teppichen und Kissen geschmückt war. Da wir vorher schon gegessen hatten, bestellten wir uns Tee, und dazu nur etwas Süßes. Doch der Nachtisch war so üppig, dass jeder höchstens drei Löffel davon essen konnte. So ist es hier auch üblich;  es wird für die Mitte bestellt, und der Kellner bringt so viele Löffel wie es Anwesende am Tisch gibt.



Diese Süßspeise ist nicht als Dessert zu verstehen, denn die Bevölkerung, die hier lebt, ist im Winter auf äußerste Kälte und Schnee eingestellt. Da ist das eine ganze Mahlzeit mit reichlich Energie. Es wird Maismehl zusammen mit Milch aufgekocht und mit getrockneten Früchten und „Pekmez“, ein Sirup aus eingekochtem Fruchtsaft, vermischt. Dann noch ein Ei und Käse untergemengt, also eine ganz deftige Mahlzeit.
Der Tee kam in zwei übereinander gestapelten Kupferkannen mit einem eigenen Stöfchen zu uns. Dazu die kleinen, typischen Gläser zum Trinken. Zucker und Kandis, für alle die den Tee „kıtlama“ trinken. „kıtlama“ ist eine Trinkart, die hier in der Region üblich ist. Dazu wird ein Stückchen Kandis mit den Zähnen abgebrochen und in einer der Backentaschen aufbewahrt. Der Tee wird dann schluckweise getrunken, so dass der Zucker erst im Mund den Tee süßt. Wir machen das nach aber mein Zuckerstückchen war schon nach einem Glas bereits weggeschmolzen. Kenner dieser Art des Tee-Trinkens können eine ganze Kanne mit  nur einem einzigen Stückchen trinken, wurde uns berichtet.
Während wir unseren Tee und die Süßspeise genossen, in halb liegender Position, fingen im hinteren Raum mit dem Kamin, wohin wir aber durch unsere Position eine gute Sicht hatten, einige der Männer an zu tanzen. Sie reihten sich aneinander, junge Männer, in feinen Stoffhosen und gebügelten Hemden, teils sogar mit Krawatte. Sie tanzten im Kreis einen typischen Tanz aus der Region. Ich fragte meine Schwester, ob wir nicht mitmachen wollten, aber wir trauten uns nicht.
Dann gingen wir, um die ganzen alten Häuser und Gassen zu besichtigen, die zwar überdacht waren, man aber durchaus die einzelnen kleinen Behausungen sehen konnte. Dabei waren die jeweiligen Gassen nicht breiter als ein Flur, teilweise noch enger, so dass man tatsächlich den Eindruck hatte, in einem sehr großen und verwinkelten alten Haus unterwegs zu sein. Die Räume waren unterschiedlich dekoriert, so wie es früher mal hier ausgesehen hatte. Der Besitzer hat alles detailgenau restaurieren lassen und wenn man wollte, hätte man das Haus auch als Museum einfach so besichtigen können, ohne etwas konsumieren zu müssen, mit einem kleinen Museumseintritt, das allerdings nur tagsüber.
Die Nacht war kalt und an Schlaf war nicht zu denken. Beim Frühstück stellten wir fest, dass wir Erwachsene - wenn auch nicht gut geschlafen - trotzdem nicht müde waren. Vermutlich auch eine Wirkung der Höhenluft.
Die Besichtigung der alten Karawanserei, die heute auf zwei Ebenen viele der traditionellen Silber-Schmuckläden beherbergt, war ein weiterer Höhepunkt. Laden an Laden nur Silberschmuck. Wir Frauen drückten uns die Nasen an den Schaufenstern platt und letztendlich kauften wir reichlich ein. Am Abend reihten sich im Innenhof der Karawanserei Tisch an Tisch. Wir nahmen Platz und bestellten einen „Samowar“. Dann kamen die verschiedensten Verkäufer mit Essbarem vorbei, hier sagt keiner was dagegen, wenn Speisen auch von anderen den Gästen angeboten werden. Die Tische gehören zwar einem Teehaus, aber alle anderen Verkäufer von Sesamkringeln und anderen Leckereien, die teilweise von älteren Frauen angeboten wurden, sind nicht verboten. Es gilt hier überhaupt ein ganz anderes Verständnis von einem Gast. Es sagt keiner was, wenn man sein mitgebrachtes Wasser trinkt und dann den Müll auf dem Tisch stehen lässt. Sie sind sehr großzügig. Wir tranken unseren Tee, Kinder spielten um uns herum. Jeder Stuhl, jeder Tisch war besetzt, die meisten Einheimischen, wenn Touristen, dann inländische wie wir, die die abendliche Kühle genossen und sich mit ihren Kindern, Familien und Freunden hier in der alten Karawanserei in Gespräche vertieften und dabei die beliebten Sonnenblumenkerne aßen.


  


 Und im Auto hörten wir viele Versionen von Sari Ahgjik (gelin)











Montag, 4. März 2019

Nackte Berge, scharfe Kurven


Wir machten uns auf die Rückreise nach Istanbul, nur dieses Mal über Anatolien. Unser erstes Ziel war Artvin. Der Weg ging erst durch die typische Vegetation der Küste entlang, grüne sanfte Berge, die wir erklommen und wieder entstiegen.
Je weiter wir ins Landesinnere fuhren, umso karger wurde die Landschaft. Der Weg war zwar keine Autobahn, doch eine sehr breit gebaute Landstraße. Nach etwa 2 Stunden Fahrt war das Grün in der Umgebung fast verschwunden und wir fuhren entlang eines Flusses zwischen hohen Bergen.
Die Natur war hier weniger lieblich. Weit und breit nur Steinfelsen, die wie eine hohe Mauer rechts und links der Straße vorragten. Wir fuhren in einen Tunnel hinein, der recht neu gemacht aussah. Dann kam der Schreck. Schon weit innerhalb des Tunnels konnten wir sehen, dass am Ausgang riesige Steinblöcke herunterdonnerten und die Straße vor uns in Schutt und Asche lag. Plötzlich wurde die Natur, die in mir ansonsten ein positives Gefühl auslöste, zu etwas Düsterem. Als der Berg auf die Straße bröckelte, waren wir froh, noch im Tunnel zu sein und nicht unter einem der Felsenblöcke. Mein Schwager verlangsamte das Tempo. Das taten alle Autos vor uns, sichtbar durch die leuchtenden Rücklichter. Schließlich kamen wir zum Stehen. Der Anfang der Schlange war kurz vor dem Ende des Tunnels. Wir stiegen aus und liefen Richtung Ausgang, von wo wir die fallenden Brocken sahen und die Gesamtsituation besser begreifen konnten. Zu unserer Freude war das eine kontrollierte Sprengung. Am rechten Hang, direkt hinter der Brücke krallten sich Maschinen an der Steinwand fest und ließen Überschüssiges herunter, sodass oben im Felsen breite Treppenstufen angelegt werden konnten.




Murat, mein Schwager, lief zu der Gendarmerie, die die Sperrung bewachte. Hier in diesen Bergen, wo es keine nennenswerten Städte gibt, außer ein paar kleine Ansammlungen von Dörfern, sorgt die Gendarmerie für solche Polizeiarbeiten. Es hatte sich um die jungen Männer in Uniform bereits eine Männertraube gebildet, die alle das gleiche wissen wollten: wann wird die Straße wieder geöffnet? So erfuhren wir, dass die Aufräumarbeiten mindestens noch eine Stunde dauern würden. Und Aufregung? Worauf oder warum sollten wir uns aufregen? Wir liefen auf die Brücken zu und bewunderten die grandiose Aussicht. Zwischen den kahlen Bergen ein grüner Fluss. Auf der rechten Seite, wo der Fluss unter uns in der Kurve lag, um den Berg zu umfließen, worauf wir standen, öffnete sich ein kleines schmales Tal, an dessen Hängen Zypressen wuchsen. Und genau zwischen den hohen Zypressen entdeckten wir die Häuser eines kleinen Dorfes. Was machen Menschen in diesen nackten Bergen, ging mir durch den Kopf einerseits. Andererseits habe ich mich sehr gefreut, dass hier in der Nähe Menschen lebten, dass wir nicht ganz verloren waren, und dieses wir bezog sich auf alle anderen Autofahrer, die teils allein, teils mit ihren Familien genauso herumlungerten wie wir. Die eine Stunde Wartezeit gestaltete sich recht kurzweilig. Bei einer ähnlichen Vollsperrung auf einer Autobahn hätten wir mehr zu leiden gehabt. Wir standen an der Brücke, beobachteten die Planierraupen, die lärmend an den nackten Steinen kratzten, schauten auf den trägen Fluss, der mit niedrigem Wasser dahinfloss. Nach einer Weile hörte das Rollen der Felsblöcke auf und schwere Maschinen fingen an, die Fahrbahn vor uns zu befreien. Sie schoben die riesigen Steine einfach runter zum Fluss, den dieser Steinschlag jedoch kaum zu berühren schien.

Endlich konnten wir unsere Reise fortsetzen. Der Weg schlängelte sich am Flussbett entlang, durch die Spalten der Berge hindurch und wir näherten uns Artvin, einer kleinen Stadt, von der ich viel gehört, aber auch etwas mehr erwartet hatte. Denn diese Stadt war auf einem einzigen Berg aufgebaut, der wie ein etwas breiter Hinkelstein zwischen den anderen stand. Wir bogen von der Landstraße ab und fingen schon an, den Berg zu erklimmen. Eine Hauptstraße schraubte sich nach oben. Als Sehenswürdigkeit ist die Wehrmauer bekannt. Wir folgten dem Schild und fuhren rechts ab in eine kleine Gasse, die nicht lang war, und ehe wir etwas merkten, landeten wir plötzlich vor dem Tor einer Militäranlage. Der bewaffnete Wachsoldat war sofort alarmiert, doch als er genau in unseren Wagen hineinsah, eng befüllt mit Kindern und Frauen, und mein Schwager ihm ebenso per Handzeichen zu verstehen gab, dass wir uns geirrt hatten, wich die Panik von seinem Gesicht. Es war für uns nicht nachvollziehbar, warum er so reagierte, allerdings werden in der Türkei die Militäranlagen gerne als Zielscheibe von Terroristen ausgewählt. Und häufig passiert das durch einen Wagen, der zum Gebäude fährt und dann die Bombe gezündet wird. Insofern war seine Panik durchaus berechtigt. Und weil das eine kleine und unbedeutende Stadt ist, wo sich nicht ständig Touristen irren, war sein Verhalten uns gegenüber durchaus kühn. Wir entschuldigten uns abermals und fuhren sofort weg. Dieser Bereich der Wehrmauer und des Turms wurden eindeutig vom Mieter beherrscht und wir hatten auch keine Lust mehr, nach einer Möglichkeit zu suchen, sie anderweitig zu erreichen. Auf diesen Schreck fuhren wir noch eine Weile den steilen Weg empor und plötzlich wusste ich, warum Evliyâ Çelebi über Artvin gesagt haben soll, er hätte bei seinem Besuch in der Stadt Kaffee bekommen, doch fand er keine gerade Stelle, seine Tasse abzustellen. Dieser Satz von dem großen türkischen Reisenden, beschreibt kurz und knapp die Situation, die wir selbst erlebt haben. Es gab nichts in dieser Stadt, außer die eine Hauptstraße, die umsäumt war mit Häuserreihen. Wir beschlossen, wieder zurück zu fahren. 



Später recherchierte ich die Geschichte von Artvin. Die Stadt gehörte bis zur Gründung der Republik zur Provinz Rize. Während der Durchsetzung von Atatürks Reformen hatte Rize heftigen Widerstand geleistet und wurde deswegen unter anderem vom Meer aus zerbombt. Artvin dagegen hatte sich sehr früh und willig den Truppen Atatürks angeschlossen und hatte sich treu ergeben und alles wortwörtlich umgesetzt. Als Lob und Dank beschloss Atatürk daraufhin, der Stadt den Status einer eigenständigen Provinz zu geben. Damit dieser einsame Hügel nicht alleine zur Provinz ernannt wurde, übergab Atatürk Teile der östlichen Provinz von Rize ebenfalls an Artvin. Somit hatte er mit einem Stein zwei Vögel erledigt, sagt ein türkisches Sprichwort. Er hatte also somit Artvin belohnt und Rize bestraft.

Wir fuhren wieder an der Landstraße vorbei, zwischen den Felswänden, die teilweise an nackte Ärsche erinnern, die sehr dicht an uns dran waren und unser Auto wirkte wie eine kleine Ameise, die die Reise zwischen diesen Po-Hälften am Verlauf des Flussbettes entlang schlängeln ließ. Teilweise waren die Kurven so scharf, dass wir den Verlauf der Straße nicht mehr gesehen haben und meine Schwester vor Angst Schweißperlen auf der Stirn hatte, als sie die Felswand sah, die die Straße verschluckt zu haben schien. So fuhren wir langsam und bedächtig durch diese schlafenden Riesen, um sie nicht aufzuwecken. Doch neben der Bedrohlichkeit hatten sie für mich auch eine gewisse Erhabenheit. Und die Kahlheit war keineswegs gleich, die Farbe derer änderte sich alle Viertelstunde, eine Freude fürs Auge.

Wir fuhren durch diese entblößte Landschaft, die Achtung gebietend und gleichzeitig beunruhigend wirkte, obwohl es ein sehr schöner, sonniger Tag war. Hin und wieder sah ich Zypressenanhäufungen auf einem Hang, mit kleinen Häusern im Schatten dieser Bäume, eine grüne kleine Fläche, die wie die Schambehaarung einer Frau wirkte. Und da hingen auch meine Gedanken, streiften die Felswände, da fragte ich mich abermals, warum die Menschen in dieser unwirklichen und feindseligen Landschaft lebten, was genau sie da trieben? Konnten sie Landwirtschaft betreiben? Was gäbe es anzupflanzen und zu ernten, wenn nirgends eine Ebene zu sehen war bei diesen Bergen, so nackt wie Herrgotts Hintern? Viehzucht sagte mein Schwager, als ich meine tiefen Gedanken den Mitreisenden eröffnete. Ziegen, sie sind anspruchslos. Hier lebten schon immer Menschen, und vielleicht ist es wahr, was Herodot über Anatolien berichtet hatte, vielleicht war das Land wirklich so grün, dass ein Affe von Byzanz bis zum Mittelmeer ohne den Boden zu berühren von Ast zu Ast gehen konnte. Vielleicht ist diese Mondlandschaft von Menschenhand gemacht, das erste Vergehen an der Natur, die erste Gewalt, so dass sie hier ihr Grün verloren hat, und nackt dasteht, uns mahnend ihre Blöße entgegen schleudert, „ja, macht nur weiter so!“.





Freitag, 22. Februar 2019

In meinem Dorf










Während dem einwöchigen Aufenthalt im Dorf gönnten wir uns etwas Ruhe. Hier machten wir lange Spaziergänge, unter anderem auch in der Nacht. Im Dorf gibt es keine Lichtverschmutzung und die Nacht ist richtig dunkel. Mit der Taschenlampe in der Hand zu laufen ist für einen Erwachsenen schon ein Nervenkitzel, weil man sich so herrlich hineinsteigern kann. Häuser gibt es auf der Strecke selten, dafür Geräusche, die man nicht einordnen kann. Dazu streifen Grashalme - zumindest hofft man, dass es Grashalme sind – an den nackten Waden. Die Kinder - zu unseren beiden kamen auch die zwei Söhne meiner anderen Schwester - waren ganz aufgeregt, erzählten sich Geschichten von Freddy Krüger. Außerhalb der Lichtkegel der Taschenlampe sahen wir Glühwürmchen.
Das besonders schöne hier im Dorf ist, dass es sich hier nicht viel verändert hat. Und jedes Mal, wenn ich da bin, ist es wie eine Reise in meine eigene Kindheit. Das ist beruhigend. Auch wenn sich die ganze Welt wandelt, die Gerüche, die Erinnerung im Dorf bleiben gleich. Der schönste Moment ist, wenn ich mich ans Fenster stelle, das die Sicht ins Tal zeigt. Der Dorfkern liegt im Tal, am Fuße des Flusses. Als die Population wuchs und der Platz eng wurde, hatte man weiter am Berg gebaut. So wurde mir berichtet, dass die Lieblingssöhne einer Familie den Besitz am Fluss vererbt bekamen; die weniger liebsamen schickte man in die Wildnis. So war das hier bis zu den Zeiten des Teeanbaus. Eine Gegend mit viel Niederschlag und kaum gerader Fläche, abgesehen von dem Flusstal. Und es wächst hier außer Mais und Kohl nichts. Viel Wald und viele Tiere hatten sie. Das traditionelle Essen ist entsprechend; es wird beherrscht von Maisbrot, Schwarzkohl und Fisch, wobei hier nur zwei bestimmte Sorten häufig vorkommen. „Hamsi“, eine Art Sardelle und „Palamut“, eine Bonito-Art, die es nur hier im Schwarzmeer gibt. Der Fisch wird im Herbst und Winter aus dem Meer geholt, dann in Salz eingelegt. Daraus machte man allerlei verschiedene Gerichte, die ich zwar liebe, die jedoch nicht jedermanns Geschmack sind. Eins davon ist das berühmte „Hamsikoli“. Man kann das mit frischem „Hamsi“ zubereiten oder aber mit in Salz eingelegten. Letztere müssen allerdings vorher gut gewässert werden.



Der Fisch wird dazu entgrätet, dann mit kleingeschnittenem grünem Gemüse, wie Porree und Mangold gemischt. Dazu kommt Maismehl, Olivenöl, Ei, Salz und Pfeffer und es wird ein flüssiger Teig hergestellt, der dann im Backofen gebacken wird. Herrlich! Gegessen wird es mit frischen kleinen Gartengurken.
Dieses Essen ist eben speziell, weil für viele Speisen das gepökelte Innenfett von Schafen benutzt wird. In dieser Gegend gibt es keine Ölbäume und somit war Olivenöl teuer und immer von außen zu beziehen. Daher war die Verwendung von tierischem Fett gebräuchlicher. Und das gepökelte Fett riecht streng und hat einen eigenen Geschmack, der mir bei den traditionellen Gerichten fehlen würde, aber Vielen den Magen umdreht. Es gibt keine Wurstkultur, jedoch es gibt „Kavurma“; gekochtes Rindfleisch, das für den Winter in Büchsen aufbewahrt wurde. Und mit „Kavurma“ veredelte man so manches Gericht. Dazu gab es alles, was die Kühe sonst noch so hergaben. Butter und Käse, meist als „Minci“, eine Art trockener, körniger Frischkäse, der aus gegorener Milch gemacht wird und in Stoffbeuteln zum Trocknen aufgehängt wurde. Und wollte man, dass er länger hielt, so legte man ihn zwischen zwei Steine, sodass er stark entwässert wurde.
Sobald genügend Milch da war, baute Oma im Flur, der allerdings breit war wie ein Zimmer, das Butterfass auf. Es sah aus wie ein Weinfass und wurde längst auf zwei Schlingen an die Decke der Diele angebracht. Rein kam die lauwarme Milch und Oma nahm an der Kopfseite Platz und schaukelte und schlug die Milch so lange, bis sie sich in Butter und Buttermilch aufteilte. Es war für uns Kinder schön zu beobachten, wie die Butterklümpchen erst ganz klein und dann immer größer wurden. Schließlich öffnete Oma den kleinen Deckel oben auf dem Bauch des Fasses, holte mit einer Holzkelle die großen Butterklumpen raus und tat sie in eine Salzlake. Dann drehte sie das Fass um, und lies die Flüssigkeit in einem großen Kessel hineinfließen. Wir freuten und auf diese köstliche Buttermilch.







































Es ist mir etwas aufgefallen, das mir durch meine Lektüre Ovids Metamorphosen deutlicher wurde. Die Erzählkunst, die mit dem Munde gesprochene, wohlgemerkt. Die alten Frauen, zumindest einige davon, beherrschen das brillant. Darin sind nicht nur Spannung und Hinauszögern der Geschichte enthalten, sondern ebenfalls die verschiedenen Nuancen. So wird an einer Stelle ein Wehklagen eingebaut, um die Dramatik der Aussichtslosigkeit zu erhöhen. Dieses Wehklagen, unterstützt mit heftigen körperlichen Bewegungen, lässt an Theaterkunst erinnern. Eine von ihnen, ich will jetzt bewusst keinen Namen nennen, um andere zu verärgern, ist darin besonders geübt. Von ihr kann ich sogar alte Geschichten immer wieder gerne hören, weil sie darin aufgeht. Sie verwandelt die Stimmlage, ihre Mimik verändert sich, wird sanft und zu Tode verängstigt, wenn sie ihre Situation in dem Moment beschreibt, die sie im Hause ihrer verheirateten Tochter erlebte, als der gewalttätige Schwiegersohn die Tochter immer wieder krankenhausreif schlug. Sie wird vor Augen der Zuhörer zu dieser verängstigten Frau, die nachts nicht schlafen konnte und in die Küche ging, um aus dem Fenster zu schauen, ob bereits der Morgen ergraut. Ihre Augen gehen der Reihe um. Jeder ihrer Zuhörer und Zuschauer wir einzeln davon überzeugt, dass ihre Tat lediglich die war, die zugezogene Gardine des Küchenfensters nur aus diesem einen Grund verschoben zu haben. Sie wollte doch nur wissen, ob der Muezzin bereits zum Morgengebet ausgerufen hatte.
Woher hatte sie das gelernt? Diese Erzähltechnik, diese Kombination aus allem, dieses Einsetzen der Mimik, die sich sekundenschnell ändern konnte, die auf Fragen aus dem Publikum einging, die so gut war, wie ein Schauspieler es so nie wird erlernen können. Ein Naturtalent, oder hatte sie es irgendwem abgeschaut? Das Wehklagen der Weiber hatte ich bei Ovid gelesen. Es muss sie immer wieder gegeben haben, und es gibt sie, wenn auch nur vereinzelt, nach wie vor. Diese alten Frauen im Dorf haben diese Kunst verinnerlicht und womöglich konserviert, wenn sie sonst kein Ventil haben, ihren Gefühlen oder dem erlittenen Leid Ausdruck zu verleihen.
Die Frauen hatten wahrlich kein einfaches Leben gehabt. Aber, da sie kein anderes kannten, schätzen sie sich durchaus glücklich. Ich will nicht sagen, dass ihr Leben derart bedauerlich war, auch wenn es von meiner Perspektive aus durchaus so erscheinen mag. Ist es das Leid, das diese Erzählkunst entstehen und kultivieren ließ? Oder ist es die Gabe, die das Leiden hervortreten lässt, den Charakter in diese Richtung zementieren lässt? Ich werde es nicht wissen. Stattdessen höre ich deren Erzählungen und den gelebten Sagen zu.
Es gibt aber auch andere alte Frauen, die zwar in den jungen Jahren alle erdenkliche Bosheit am eigenen Leib erlebt haben; von ihren Männern oder von ihren Schwiegereltern, doch im Alter kehrt sich das um. Meistens überleben sie ihren Ehemann und sind dann selbst die Herrscher des Clans. Sie wohnen mit den verheirateten Söhnen und dessen Familie zusammen, Haus und Hof im Dorf gehört ihnen. Und so tun sie nichts anderes mehr als in der Morgensonne vor die Tür zu treten, mit langsamen Schritten, durch Zuhilfenahme eines Gehstocks, sich gegenseitig zu besuchen und über die Wehwehchen zu klagen, und auch den Tratsch des Dorfes weiter zu verbreiten. Und wenn dann so eine wie ich zu Besuch kommt, und die alten Geschichten erzählt haben möchte, dann blüht diese alte Dame erst richtig auf. Sie lässt mich teilhaben an ihrem Reichtum. So manch einer der Zuhörer in der Runde mag sich durchaus gelangweilt fühlen, weil sie diese Geschichten bereits so oft gehört haben. Da müssen sie durch. Ich ermutige sie, sie mir immer wieder zu erzählen, weniger wegen des Inhalts, denn dieser ist inzwischen auch mir bekannt, vielmehr wegen der wahrhaftig großartigen Erzählkunst.



Der Abschied vom Dorf ist nicht besonders schwer. Meist bin ich nie länger als eine Woche da. Und jedes Mal denke ich, eine Woche ist so kurz, ich sollte länger bleiben. Die ersten Tage sind voller Enthusiasmus. Ich will jeden Winkel der Wege und das unbeschreibliche Grün in mir aufsaugen und für die Zeit des „Nichtdaseinkönnens“ speichern. Wie ein Fotoapparat knipse ich Bilder für mich, atme die Luft tief ein, die nach frischem grünen Tee riecht; speichere den Sound des Regens, der von den Zinnen auf breite Blätter hinuntertropft und auf achtlos weggeschmissene oder liegengebliebene Gegenstände trommelt, sammle die Erinnerung an kühle Abende, wie ich abwechselnd mein Gesicht und meine Fußsohlen an dem Küchenofen „Kuzina“ erwärme; horte den Blick des Hundes Eşkiya, seine lautlose Freude, wenn man sich seiner annimmt, ihn streichelt, mit ihm spielt, ihn füttert, oder mit ihm einfach einen Spaziergang macht. Eşkiya bellt niemanden an, der hier lebt, doch er verscheucht Wildschweine und Schakale, die sich oft in die Nähe der Häuser wagen, um schnelles Futter zu finden. All das ist nichts Besonderes, doch für mich das, wonach ich mich von Zeit zu Zeit sehne und mir dann immer wieder diese Eindrücke hervorrufe und mich an ihnen erfreue. Doch die anfängliche Freude, Begeisterung, Rührung nimmt mit der Dauer des Aufenthaltes ab. Alles, auch eine Wiederholung des Guten, ist zu viel. Und so vergehen die restlichen Tage mit Warten auf den Abschied. Wie kann man von allem, was man so sehr liebt, so schnell satt werden? Man sollte darin unersättlich sein, denn dann könnte ich jeden Tag aufs Neue alles genauso genießen wie am ersten Tag.










































Ajda Pekkan (für dich, nicht weil ich sie mag, aber du, weil du) "Kimler geldi, kimler gecti"


Donnerstag, 7. Februar 2019

Batumi ბათუმი



Wohnhaus in Batumi

















Unser Dorf Mişona liegt in 400 Metern Höhe auf einem kleinen Berg, ganz in der Nähe der Provinzhauptstadt Rize. Früher, als mein Vater noch ein Kind war und keine Autostraße zum Dorf existierte, da liefen die Bewohner zu Fuß in die Stadt. Dazu mussten sie von unserem Dorf aus erst bergab und dann wieder einen ähnlich hohen Berg überwinden, denn erst dahinter war die Stadt. Es gab Fußpfade auf dem kürzesten Weg hin, im Gegensatz zur heutigen Autostraße, die zunächst vom Dorf hinunter zur Flussebene führt und dann am Meer entlang in die Stadt, die ebenfalls direkt am Meer liegt. Heutzutage läuft niemand mehr zu Fuß. Alle fahren mit dem Auto und die alten Pfade liegen brach. Ich hatte es mal gewagt, den alten Weg vom Fluss hinauf zum Dorf zu laufen, den ich als Kind mit meiner Oma immer gegangen war; nur war er verschwunden. Da, wo ich ihn vermutet hatte, wuchs die Vegetation, wucherte das wilde Grün.

Mein Dorf ist für Fremde nicht interessant. Es gibt dort keine Sehenswürdigkeiten, nicht mal das Wetter ist schön. Es regnet sehr viel und sehr häufig. Ich hatte nur einmal das Glück, dort in einem einwöchigen Urlaub im Meer zu baden, wobei man sagen muss, dass das nicht immer am Wetter lag. Es ist schwierig, mit vielen Erwachsenen und etlichen Kindern erstens einig zu werden und zweitens so ein Vorhaben wie „zum Meer“ zu fahren in die Tat umzusetzen. Oft lag es an der Organisation, seltener am Wetter.

So haben wir beschlossen, nach Batumi in Georgien zu fahren. Es gibt eine offene Grenze, sodass die Bevölkerung beider Länder ohne Pass die andere Seite besuchen kann. So machten wir uns mit dem Auto auf den Weg, parkten den Wagen auf der türkischen Seite und gingen zu Fuß rüber. Drüben gab es eine große Geschäftigkeit und jede Menge Möglichkeiten, weiter ins Landesinnere zu reisen. Selbst die Sprache war kein Problem, denn viele können dort Türkisch und auch recht gut Englisch. So fanden wir ein Großraumtaxi, das uns, fünf Erwachsene und zwei Kinder ins Stadtzentrum fuhr. Der ältere Fahrer stammte aus der Türkei, ein „Laz“, so wird die Menschengruppe bezeichnet, die neben dem Türkischen auch Georgisch sprechen.



An der Grenze zu Georgien


Was ich lange nicht wusste, dass eben hier, in dieser Region der Türkei, an der östlichen Schwarzmeerküste, drei weitere Sprachen gesprochen werden. Dazu gehören die „Romeika“, also das „Pontus-Griechisch“, „Hemşin“, ein Armenischer Dialekt und „Laz“, was ebenfalls eine Mundart des Georgischen ist. Ich selbst kann leider keine weitere Sprache, doch auch in meinem Dorf gibt es vereinzelt Wörter aus der „Romeika“. An der Grenzregion zu Georgien ist die Sprache identisch. Der einzige Unterschied ist, dass die Bevölkerung auf der türkischen Seite Moslems sind und auf der anderen Seite Christen. Seit Eröffnung der Grenze in den 90igern des vorigen Jahrhunderts herrscht ein reger Austausch in dieser Grenzregion. Als wir unseren Wagen geparkt hatten, reihten sich Busse aneinander, die die georgischen Saisonarbeiter zu türkischen Städten an die Schwarzmeerküste fahren. Männer und Frauen warteten kauernd auf dem Gehweg, neben sich ihre Sachen in Koffern, Taschen und Tüten. Sie kommen mit einem Dreimonats-Visum in die Türkei und arbeiten dort in verschiedenen Berufen, unter anderem bei der Teeernte.

Onkel Sinan, ein Großcousin meines Vaters hat drei Männer, die immer zu ihm kommen, bei ihm wohnen, während den Sommermonaten mit ihm leben, ihm sogar das Winzern auf die spezielle georgische Weise beigebracht haben, wobei der Wein in Tonkrügen unter der Erde begraben wird. Tagelöhner, wobei sie  für die dortigen Verhältnisse nicht schlecht verdienen. Es sind um die 100 Lira pro Tag, das entsprach in dem Sommer 30 Euro. Vor Ort haben sie keine weiteren Ausgaben, außer Zigaretten, sofern sie rauchen, aber die meisten rauchen. Essen und die Unterkunft ist kostenlos. Und wenn Sinan nicht viel zu tun hat, wenn seine Teeplantagen geerntet sind, pflücken sie Tee für andere. Damals, als ich meine Eltern im Dorf besucht hatte, hatte mein Vater die Männer für eine Woche im Einsatz. Sie schliefen zwar nicht bei uns, aber das Essen hatten wir zubereitet.

Hier warteten sie hockend auf dem Trottoir auf den Bus. Frauen kommen häufiger, um als Krankenschwester und Pfleger in privaten Haushalten zu arbeiten. Verwandte von mir hatten für ihre gebrechlichen Eltern eine georgische Krankenpflegerin organisiert. Es zerbrach mir das Herz, diese Menschen hier zu sehen. Manche hatten ihre Kinder dabei. Erinnerungen schossen hoch. War ich doch ebenfalls das Kind eines Arbeiters in einem fremden Land. Und wer weiß, wie viele der Menschen rastlos hin und her pendeln werden, so wie ich? Sie haben es wenigstens nicht sehr weit.


Batumi, Blick vom Restaurant am Hafen


Unser Taxifahrer jedenfalls war ein türkischer Bürger, der hier in Georgien lebte, der hier arbeitete, hier eine Wohnung und ein Haus gekauft hatte. Er bezog seine Rente aus der Türkei und lebte damit in Batumi, wie er sagte, viel besser, weil sein Geld mehr wert wäre. Seine Söhne und eigentlich seine ganze Familie waren ebenfalls nach Georgien gezogen.
So fuhr er uns in die Stadt, erzählte von den gewagten Bauprojekten der Investoren, die aus Batumi ein Las Vegas der Region machen wollten. Und in der Tat waren so einige merkwürdige Bauten darunter, unter anderem ein Haus, das auf dem Kopf stand. Er setzte uns in der Nähe des Hafens ab, wo sich die Altstadt befand. Und prompt landeten wir in der „Klein-Türkei“. Lauter Dönerläden, türkische Restaurants, türkisch sprechende Touristen, die genauso hungrig wie wir waren und weil nicht jeder aus meiner Familie so experimentierfreudig ist, landeten wir in einem der türkischen Restaurants.

Vermutlich war auch hier wie in anderen fremden Ländern, in denen sich die Restaurants dem Geschmack der jeweiligen Gaumen anpassen, das Essen etwas fad, weil insgesamt zu wenig Gewürze im Fleisch und der Suppe. In der, die ich bestellt hatte, war definitiv zu wenig Knoblauch und Chili. „Kelle paça“, eine Spezialität aus gekochtem Rindskopf, verträgt eine ordentliche Portion Knoblauch und sie darf ebenfalls recht scharf sein. Das Fleisch war allerdings sehr gut. Es war lange im Sud gekocht worden und zerfiel auf der Zunge, so wie es sein musste. Später, als der Hunger gestillt war und wir mehr von der Stadt gesehen hatten, kehrten wir in einem sehr schön gelegenen großen Restaurant direkt an einem kleinen Hafen ein. Wir ärgerten uns, denn hier hätten wir die Möglichkeit gehabt, typische georgische Gerichte zu probieren. Aber wir haben dort Bier und Brause getrunken.




Es gab nicht viele Gäste. Ein paar türkische Touristen wie wir. Die Altstadt war teilweise in türkischer Hand. Überall lateinische Buchstaben mit türkischen Hinweisschildern. Darüber hinaus Blockwohnhäuser aus der Sowjetzeit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie schön fand, auf jeden Fall bemerkenswert. Vier bis sechs Stockwerke hoch, eine Batterie an Wohnungen. Zur Straße hin Balkone. Das Bemerkenswerte war jedoch, dass die Fassade jeder Wohnung anders gestrichen oder anders ummantelt war. Bei einigen war es ein einfaches Wellblechkonstrukt, andere hatten eine Holztäfelung, wieder andere hatten ihren Wohnungsbereich bunt gefärbt, so dass für den Betrachter ein wilder Flickenteppich entstand. Zwischen zwei Blocks über die Straße hingen Wäsche an einer Leine. Etwas weiter sah man die Neubauten, Hotel und Spielhalle in einem. Diese lagen näher am Meer. In einer kleinen Straße war ein Bauernmarkt aufgebaut. Darin fanden sich kleine Mengen Obst und Gemüse; etwas weiter hatte ein Bierbrauer ein großes Bierfass auf einen Holzkarren gestellt und verkaufte sein Selbstgebrautes; ihm gegenüber ein Tabakbauer, der loses Rauchwerk feilbot. Zugegeben ungewöhnlich, zumal die Zigaretten hier nicht besonders teuer sind. Diese sind neben Alkohol Schmuggelgut Nummer zwei, die hier gekauft und auf der anderen Seite, in der Türkei, wo es eine hohe Alkohol-/ und Tabaksteuer gibt, weiterverkauft werden.
Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu und wir machten uns auf den Weg zurück zur Grenze. Nur waren wir sieben Personen und benötigten ein Großraumtaxi oder zwei Taxen. Am Stand wartete nur ein Wagen, ein sehr alter Mercedes, allerdings sehr gut gepflegt. Der junge Fahrer stieg aus und war der Meinung, er würde uns alle in den Wagen hineinbekommen. Wir mussten ihm nur mehr Geld geben, weil wir das Geld für das zweite Taxi ja sparen würden. Wir einigten uns auf den Preis und quetschten uns in den alten Benz. Vorne zwei, hinten drei nebeneinander und der Rest quer über die drei. Und als wir wie die Sardinen in der Büchse losfuhren, holte unser Fahrer von der Sonnenblende eine Ausflugskarte und meinte scherzhaft, ob wir nicht Interesse hätten, in die Berge zu fahren. Da lagen wir wirklich gequetscht übereinander und Schweiß floss in Schweiß über, doch den Witz fanden wir gut und lachten, soweit wir Luft holen konnten.


Blick aus dem überfüllten Mercedes auf der Rückfahrt


Die Grenze war furchtbar. Schon morgens, als wir rüber nach Georgien laufen wollten, hatte es uns zwei Stunden gekostet, weil, so die offizielle Entschuldigung, ein Computersystem ausgefallen sei. Wir standen dann stundenlang in der Sonne und warteten darauf, aus der türkischen Seite herausgelassen zu werden. Abends erwartete uns ebenso eine unglaubliche Schlange, die zum Teil durch die Baustelle verschuldet war, denn die türkische Seite hatte eingesehen, dass der Grenzübergang jetzt schon zu kollabieren drohte. (Also wird umgebaut und vergrößert.) Durch einen engen dunklen Korridor, unzählige Menschen zusammengepfercht, wo nirgends ersichtlich war, wo der Ausgang oder die Schalter waren, wodurch wir hinmussten – das jagte einem schon Panik ein. Dann eine totale Unruhe, vorne schrien die Polizisten, „Frauen und Kinder zuerst, Frauen und Kinder nach vorne“.

Schon drängelten sie von hinten, meine Schwester war am Rande einer Panikattacke. Wir, drei Frauen und zwei Kinder trennten uns vom Schwager und Bruder und liefen mit anderen Frauen und deren Kindern am engen Korridor entlang zwischen Massen von Männern zum Grenzhäuschen. Polizisten zogen die Kinder an einer kleinen Mauer hoch, denn durch die Baustelle kamen wir erst jetzt ins Hauptgebäude hinein. Drinnen Scangeräte für die Taschen und ebenfalls Schlangen. Doch die Beamten waren flott und haben uns durchgewunken. Es roch nach Alkohol, der irgendwo in dieser Halle kaputtgegangen war, vermutlich nicht gut verpackte Schmuggelware. Endlich hatten wir diese Odyssee hinter uns gebracht, trafen uns auf dem Parkplatz, doch wir mussten das Erlebte erst mal in aller Ausführlichkeit besprechen. Denn so machen das die Leute in der Türkei. Es wird sehr häufig darüber gesprochen. Meine Schwester dramatisierte heftig in ihren Erzählungen. Zugegeben; es war eng und unangenehm, aber das ist in einem überfüllten Rockkonzert nicht anders. Und immer, wenn sie anfing zu erzählen, dachte ich, wo war ich denn, als diese schrecklichen Dinge passierten. 

Und zum Schluss das berühmte Volkslied über Batum.








Der Weg ist immer das Ziel

Am nächsten Tag, kurz vor der Abreise, sind wir zu den drei konischen Grabstätten (Kümbet) gegangen, die aus der Zeit der Seldschuke...