Samstag, 19. Januar 2019

Kurz vor dem Ziel

























Die Küstenstraße ab Trabzon kannte ich sehr gut. Früher, in meiner Kindheit, bin ich sie sehr viel gefahren. Sie ist kurvenreich und schmiegt sich eng an die steile Küste an. Hinter dem Flughafen von Trabzon kamen all die Erinnerungen mit meinem verstorbenen Vater hoch, wie er mich von dort abholte und sein Fiat Doblo die linke Spur der neuen Autobahn nie verließ, als habe er die ganze Zeit darauf gewartet, eine Straße zu haben, worauf er eben schnell fahren konnte, sofern man beim Doblo von schnell überhaupt sprechen kann. Mein Vater fuhr gerne schnell, und immer, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, drückte er aufs Gaspedal. Meine Mutter schimpfte dann vom Rücksitz, er solle sich schämen, wie ein hormongesteuerter Jüngling zu fahren; er möge sich bitte seiner schlohweißen Haare besinnen und auf die rechte Fahrbahn wechseln, wo alle „Rechtschaffenden“ fuhren. Es ging alles gut. Er fuhr unfallfrei, sein Leben lang. Nur wurde er oft von der Polizei angehalten und musste zur Freude meiner Mutter hohe Strafen zahlen. Und die beiläufigen Bemerkungen der Polizeibeamten ertragen, wobei mein Vater sich wegen so etwas nie geärgert hatte. Er lachte mit dem jungen Beamten, als dieser ihn fragte, ob er Opa sich nicht schäme, zu rasen. „Ich kann das“, antwortete er ihm darauf, „ich kann mir das leisten.“ Neben ihm auf dem Beifahrersitz hatte ich nie Angst. Sein Doblo flog über die Mittellinie, wenn mein Vater die Kurve nach rechts nahm und meine Mutter hinten laute Gebete gen Himmel sandte, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Oft denke ich, ist er gerade auch deswegen so schnell gefahren, um sie zu ärgern. Er hatte einen feinen Humor, und ich lachte mit.




Und wie auch etliche Male mit meinem Vater, hielten wir in Vakfıkebir an, um das berühmte Brot zu kaufen. Traditionen werden weitergelebt, und ich kann mit Recht behaupten, dass 90% der Privatreisenden in diesem kleinen Örtchen anhalten, um Brot zu kaufen. Dazu muss man die Schnellstraße nicht mal verlassen, denn sie führt mitten durch den Ort. An ihren Säumen rechts gegenüber dem Meer gibt es die Bäckereien, die überall in der Türkei ähnlich aussehen: ein Verkaufsraum mit einer sehr großen Vitrine voller riesiger Brotlaibe. Die Brote hier werden allerdings nicht mit Hefe, sondern mit Sauerteig hergestellt. Ein Weizenbrot mit dicker Kruste und Sauerteig. In der Tat lohnte sich der kleine Aufenthalt. Mein Schwager ging mit meiner Schwester hinein. Ich blieb mit den Kindern im Auto, weil wir nur Brot kaufen wollten, also eine schnelle Angelegenheit. Doch dann kam meine Schwester mit einem Glas Tee auf der einen Hand und geschnittene Brotscheiben in der anderen zu uns. Der Bäcker meinte, er ließe niemanden ohne Verkostung gehen. Und als sie den Einwand machte, sie hätte keine Zeit, weil wir im Auto warten würden, schickte er sie mit Tee und Brot eben zu uns.

Und dann sah ich meinen Schwager durch das Fenster, wie er dastand, Tee trank und sich mit dem Bäcker unterhielt. Später, als wir alles erledigt hatten und weiterfuhren, gab er uns den Inhalt des Gespräches wieder. Der Becker hatte gefragt, woher man käme, wohin man ginge, woher denn die Eltern stammten, weil Murat Istanbul als seinen Geburtsort genannt hatte. Aber die meisten kamen aus anderen Teilen der Türkei nach Istanbul; die wenigsten sind echte Istanbuler seit Generationen. Und so verläuft eine typische Unterhaltung, wenn sich zwei Fremde sich begegnen, ganz nach dem Thema der Abstammung. Die Frage dient nicht zur Differenzierung, wie man vielleicht annehmen könnte. Es ist der Beginn der Suche nach Gemeinsamkeiten, eines gemeinsamen Themas, was beide interessieren könnte, oder worüber beide etwas zu sagen hätten. So betrifft die Frage, woher man kommt, also die nach der Abstammung, der Region, der Stadt nicht nur den Gefragten, sondern ebenso den Fragenden. Denn dieser beantwortet seine gestellten Fragen ebenfalls. Je näher diese Regionen oder Orte sind, desto näher fühlen sich die Fremden und die Unterhaltung vertieft sich auf die Sehnsüchte oder Besonderheiten dieser Gegend. Wenn Fremde die gegenseitige Herkunft nicht kennen oder wenn es auf beiden Seiten Vorurteile gibt, dann bleibt das Gespräch auf der Ebene der höflichen, gegenseitigen Belobigungen, die aber nicht sehr tief gehen und sich oft auf das Thema Essen beschränken. Nun auch hier, als mein Schwager erzählte, dass sein Vater aus Bitlis stammte, eine Provinz aus der Kurdenregion da habe der Bäcker gefragt, was er denn in Rize wollte, halb aus Spaß, halb aus echter Neugierde, denn diesen Begegnungen liegt die Neugierde zu Grunde. Mein Schwager musste im weiteren Verlauf des Gespräches nun detailliert etwas von seiner Frau wiedergeben, die zwar ebenso in Istanbul lebte, aber aus Rize stammte, und er musste von mir erzählen, von den Kindern und von unserer gemeinsamen Reise nach Rize. Und da muss sich der Bäcker seiner Vorurteile gegenüber Bitlis bewusst geworden sein, da habe er erzählt, dass er mal Honig gegessen hätte, aus Bitlis, den besten, den er kannte. Meinem Schwager war nicht bewusst, dass es überhaupt Honig aus Bitlis gab. Nach unserer Rückkehr nach Istanbul hat er tatsächlich nach dem Honig gesucht und ihn auch gekauft. Sehr lecker.

















Unsere Reise wurde mit dieser Wiedergabe der Begegnung beim Bäcker weitergeführt. Es ist üblich in der türkischen Kultur, dass gerne und viel erzählt wird und oft in Wiederholungen, zum einen das Heraufbeschwören des guten Gefühls dieser Momente, zum anderen oft bei gemeinsam Erlebtem, sodass jeder ein Detail dazu gibt und somit der Moment in seiner Aufnahme merklich mehr Infos beinhaltet. Dabei gibt es nichts, was ausgelassen wird, nichts ist bedeutungslos, alles wiedergebbar, alles. So war auch dieser kleine Aufenthalt wahrlich länger als gedacht und erhofft. Aber, sollte eine Reise auch nicht immer eine Begegnung mit Menschen sein? In Erinnerungen bleiben doch diese Gespräche. Und hier und da kommen sie hoch, wie Blasen im Hefeteig (oder im Sauerteig, denn auch er wirft Blasen). Man redet dann von Menschen und ihren Geschichten. Unsere Reise kam langsam zu der Etappe, wo wir eine Weile, genauer gesagt eine Woche, verweilen würden. Und kurz vor Of, einem kleinen Städtchen an der Provinzgrenze von Rize, also als wir das Ortseingangsschild sahen, musste ich den berühmten Satz meiner Mutter wiederholen, den sie immer an dieser Stelle sagte, als sie, Vater am Steuer, mich vom Flughafen abholten und wir zum Dorf nach Hause fuhren. Da hörten wir meine Mutter auf dem Rücksitz die „Klage des Geistlichen aus Of“ wiederholen.

Der Legende nach rief der Imam von Of aus den Minaretten seinen Wunsch nach Nudeln. In früheren Zeiten, auch noch in meiner Kindheit, haben die Imame ihre Mahlzeiten von der Gemeinde bekommen – das Frühstück ausgenommen, war das Mittag- und Abendessen aufgeteilt, so dass jeder Haushalt abwechselnd einen Tag den Dorfgeistlichen mit Essen versorgte. Es war vermutlich im Herbst, wo es oft Kürbis gab, sodass der Imam jeden Tag ihn zu essen bekam und sich nach Nudeln sehnte und dann den Gläubigen nach dem Aufruf zum Gebet direkt sein Leid klagte. „Oh du herzloser aus Of und dein Weib mit verschissenem Hintern, wie könnt ihr an vierzig Tagen 40 Kürbisse mich essen lassen? Nudeln, Nudeln, verlangt mein Herz!“ Diese kleine Anekdote kennt jeder und führt es als Beweis für den Geiz der Bewohner von Of.

















Diese hatte ich eben all die Jahre gehört, als mich meine Eltern gemeinsam vom Flughafen abgeholt hatten. Und als ich das im Auto erwähnte, konnte mir meine Schwester vergewissern, dass sie diese Anekdote ebenfalls kannte, erzählt von meiner Mutter genau an jener Stelle, wo das Ortseingangsschild sichtbar wurde.



Ander Sevdaluk 



Dienstag, 1. Januar 2019

Giresun (Κερασοῦς), die Stadt der Kirschen

Burg von Giresun






































Die Burg thronte auf einen Hügel oberhalb der Stadt. Historisch wenig erforscht. Keiner weiß genau von wem sie erbaut wurde. Wir gehen durch die Mauer, die recht gut erhalten ist. Drinnen eine Zisterne, die sich mit dem Regenwasser füllte. Und ein verschwenderisch schöner Bach, der künstlich angelegt war und vermutlich das überflüssige Wasser aus der Zisterne abtragen sollte. Sie ist wie aus einem Märchenfilm, fließt zwischen vermoosten Steinen, sammelt sich in Becken, um daraus den Hang fortwährend runterzulaufen, leise plätschernd. Wer das auch immer so machen ließ, der hatte Ahnung von zarter Poesie. 

Ansonsten war der Ort fest in Touristenhand. Einheimische wie ausländische flanierten auf den Wegen zwischen hohen Bäumen, die das Innere des Burgs nun belebten. Kleine Spielplätze, Tische fürs mitgebrachte Essen, Teeverkäufer und sonstige Klimbim-Anbieter säumten den kleinen Platz am Ende der Autostraße.

Wir bestellten uns eine kleine Teekanne, die mit dem Ofen gebracht wurde. So macht man das hier. Man setzt sich auf die Holzbänke und trinkt den Tee aus kleinen Gläsern. Zwei Kannen übereinander auf einem provisorischen Ofen, der unten mit Holz gefeuert wurde. Die Arglosigkeit der Türken lässt mich immer wieder bewundern, denn wir befanden uns in einem dicht bewachsenen Wald.

Aber das kannte ich auch aus dem großen Bazar in Istanbul. Da gab es Dönerbuden, mittendrin, traditionell mit Holzfeuer. Es ist schon einige Jahre her. Ich weiß nicht mehr, ob es heute den Laden gibt, die uns einfach so zum Tee eingeladen hatte, weil wir stehengeblieben und ihnen beim Anlegen des Spießes zugeschaut hatten. Erst wurde eine dicke Zwiebel aufgespießt, darauf Fleischlappen drapiert, dann eine Schicht Hammelfett, dann wieder Fleisch, links und rechts , immer wieder festgedrückt. Und einer hatte die Holzscheite im Ofen hinter dem Spieß aufgeschichtet und angezündet. Das Feuer züngelte nach allen Seiten. Der Spieß war noch nicht angebracht. Die Scheite mussten sich erst zur Glut herunterbrennen. Bis der Fleischklopps die erforderliche Größe entwickelt hatte, gab es ja genügend Zeit dafür. 

Das war damals so ein unerwartetes Schauspiel, als mein Mann und ich in den Morgenstunden durch den großen Bazar marschierten und uns diese Emsigkeit des kleinen Dönerladens auffiel. Wir blieben stehen, erstaunt über alle das, was dort passierte. Wir befanden uns in einem historischen Gebäude und da machten sie einfach Feuer.
Sie hatten uns ebenfalls bemerkt, wie wir da standen und sie anstarrten, ja vielleicht auch begafften, mit offenen Mündern, und hin und wieder deren Handfertigkeit miteinander in unsere, ihnen fremde Sprache kommentierten. Da lächelten sie uns an, baten uns näher zu kommen. Ich verstand sie, bedankte mich auf Türkisch und nahm das Angebot an. Sie boten uns Sitzplätze an, und bestellten bei einem vorbeigehenden Tee-Jungen zwei Gläser. Denn wir waren deren Gäste. So blieben wir, plauderten und tranken unseren Tee aus. Als mein deutscher Mann den Tee bezahlen wollte, hielt ich ihn davon ab. Das machte man nicht, ein Dankeschön genügte. Diese Gastfreundlichkeit ist in den Städten am Abnehmen, doch in den kleinen Dörfern und Orten begegnet man ihr noch des Öfteren. 


Zisterne mit angelegtem Bach

Auf der Burganlage

Blick auf die Stadt Giresun











































Wir tranken unseren Tee, schlenderten über die Burganlage, die einen herrlichen Ausblick auf die Stadt bot und machten uns anschließend auf dem Weg um die berühmten Giresun Evleri (die typischen Häuser der Stadt) zu finden. Die Navigation irrte sich in engen Gassen und wir beschlossen einen Bewohner nach dem Weg zu fragen. Er kam die Straße entlang, in der einen Hand ein Laib Brot in einer Tüte. Vermutlich hatte ihn die Frau losgeschickt, fürs Essen frisches Brot zu besorgen. Mein Schwager fragte ihn durch das geöffnete Fenster. Der Mann bückte sich leicht nach vorne und sagte, dass wir uns bereits in diesem Viertel befänden. Nur, mit dem Auto wäre das nicht gut. Wir sollten zu Fuß laufen. Viele der Häuser gäbe es leider nicht mehr. Sie mussten schon vor Jahren weichen, aber ab und an würde man das eine oder andere doch noch sehen. Und dann sah er uns an, zwei Frauen und zwei Kinder, sah, dass wir einen ziemlich weiten Weg hinter uns hatten, denn entsprechend sah es im Auto aus. Da fragte er, wohin wir so eigentlich wollten. Mein Schwager nannte unser Ziel, die Stadt Rize. Er lachte, das sei noch eine lange Strecke. Ob wir nicht aussteigen und mit zu ihm gehen wollten, auf einen Tee, oder eine Kleinigkeit essen. Er selber wohnte in einem dieser alten Häuser, so hätten wir die Möglichkeit, eins sogar von innen zu betrachten. Wir waren alle sehr gerührt, doch mussten wir leider weiter fahren. Der Weg, sagte mein Schwager, der sei noch lang. Und so äußerte der Fremde sein Bedauern und wir verabschiedeten uns. Später, als wir uns diese Geschichte immer und immer wieder erzählt hatten, fanden wir es doch schade, nicht die Zeit genommen und die Einladung angenommen zu haben. Mir ist zudem aufgefallen, dass eine auch ernstgemeinte Herzlichkeit, eine Einladung ein Entgegenkommen oft nicht angenommen wird. Es bleibt oft bei einer rhetorischen Höflichkeit. Das wäre eine gute Gelegenheit gewesen, diese Attitüde zu brechen und nicht alles dankend abzulehnen. Wir waren noch am Anfang unserer Reise. Wer weiß, vielleicht werden wir das irgendwann doch noch können.



"Divane asik", eine meiner Lieblingslieder aus der Gegen, aus meiner Gegend. 














Der Weg ist immer das Ziel

Am nächsten Tag, kurz vor der Abreise, sind wir zu den drei konischen Grabstätten (Kümbet) gegangen, die aus der Zeit der Seldschuke...