Mittwoch, 19. Dezember 2018

Zwischen Ünye und Ordu

Jason Kapelle in Ordu

Es wurde spät, wir hatten die Verzögerungen aufzuholen. Die Nacht war in Ordu geplant, doch der Weg bis zu diesem Küstenort war weit. Wir fuhren nun entlang der östlichen Schwarzmeerküste. Obwohl das gleiche Meer, war hier das Liebliche weg. Hier hatten wir einen Temperatursturz von gefühlt 20 Grad. Es regnete. Ein Gefühl von Heimat ergriff mich und sagte mir innerlich „das ist das tatsächliche Schwarzmeer, eben, da wo das Meer dunkel ist.“
Blick aus dem berühmten Teehaus "uzun saclinin yeri"


Ordu war noch sehr weit. Wir fuhren durch Samsun, die berühmte Stadt, wo Atatürk mit seinem Schiff ankam, um die Bevölkerung für den Widerstand gegen die Siegermächte zu mobilisieren. Das wurde uns in der Schule beigebracht. Der 19. Mai ist ein nationaler Feiertag, zu Ehren dieser Landung in Samsun. Die Stadt ist keinen Besuch wert, beschlossen wir. Denn wir waren schon mal da. Meine Eltern lebten eine zeitlang hier, als meine jüngste Schwester hier studierte. Eine breite Straße an der Küste, die Hauptstraße, die wir von Westen nach Osten durchfuhren. Was gibt es sonst darüber zu erzählen? Mir fällt nichts ein. Eine alte Trabantenstadt, die viele aus anderen Gegenden der Türkei anzog. Hier wurden staatliche Fabriken gebaut.

Es war bereits sehr spät, als wir in Ünye ankamen, ein kleines Städtchen auf dem Weg nach Ordu. Wir telefonierten vorher mit Hotels und reservierten zwei Zimmer direkt in der Stadt. Die Zimmer waren sauber. Wir hatten zwei große Betten darin, einen orientalischen, üppig gerafften Samtvorhang und ein geräumiges Bad mit Dusche. Die Städte an der östlichen Schwarzmeerküste bekommen vermehrt Touristen aus dem arabischen Raum. Dazu passen auch diese hohen Betten mit Gold durchzogenem Bettüberwürfen und der Vorhan.
Unser Abendessen war hingegen sehr bescheiden. Ein berühmtes Restaurant der Stadt, wo uns eine traditionelle Küche erwartet hätte, hatte bereits geschlossen. Es war zwar erst neun Uhr, aber dieses Restaurant nahm keine neuen Gäste mehr auf.

Wir hatten Hunger, so ließen wir uns in einem Imbiss nieder. Auf kleinen Tischen und Stühlen vor dem winzigen Laden, worin der Koch uns Dürüm servierte. Dürüm sind kleine Fleischstücken, die in sehr dünnes Fladenbrot eingerollt werden, ähnlich wie Wraps.

Später machten wir einen Spaziergang. Es nieselte leicht, von irgendwoher kam Livemusik. Auf einem Platz waren kleine Hütten aufgestellt. Eine Band spielte auf der Bühne, Menschen schlenderten entlang der Hütten oder tanzten vor sich hin. Es war eine Schlussveranstaltung  von Ramadan-Festivitäten, die im Fastenmonat abends in den Städten stattfindet. Es ist dann ähnlich wie Weihnachtsmarkt in Deutschland, mit kleinen Buden, wo Künstler ihre Handwerkserzeugnisse ausstellen und verkaufen. Diese Hütten gehören der Stadt. Sie sind genormt, alle gleich. Der Mieter schmückt sie nach seinem Geschmack. Neben Handwerkschmuck gibt es Essensstände und eine Bühne für Musik. So wird im Fastenmonat das gesellschaftliche Leben auf die Abend-/ und Nachtstunden verlegt. Nach dem Sonnenuntergang gehen sie raus, alle miteinander. Oft gibt es für Kinder ein Karussell oder andere Fahrmöglichkeiten.

Dieser Platz hier war umzäunt von einer portablen Mauer, der zwei Eingänge hatte. Wir wurden beim Hineingehen kontrolliert. Der Eintritt war kostenlos. Der Ramadan war zwar schon vorbei, aber dieser Festplatz war noch nicht abgebaut. Aber das wunderte hier niemanden. Wir gingen die Stände durch und tanzten zur Musik, bis die Kinder müde waren und ins Bett gehen wollten. Den Rückweg ins Hotel nahmen wir über die Strandpromenade und spazierten dort, wo Cafés und Restaurants noch geöffnet waren, wo wir das Meer zwar nicht sehen, aber umso deutlicher hören konnten. Im Hotel gingen die Geräusche der Straße in den Regen über.

Das berühmte Lied "Hekimoglu", gleichnamiger Held, der nach der Legende zwischen Ünye und Ordu erschossen wurde. Dieses Lied war unter anderem eines der Musikstücke, die uns im Auto begleiteten. Hier habe ich eine Interpretation von Paul Dwyer, der das Lied mit Gitarre begleitet. 

Diese Version ist eher eine traditionell. 

Der nächste Tag brachte uns nach Ordu, wo wir eigentlich übernachten wollten. Das Wetter war deutlich kühler als beim Start unserer Reise. Das Schwarze Meer begleitete uns silbrig. In Ordu selber gab es wenig zu sehen, also beschlossen wir, mit der Seilbahn in die Berge zu fahren. So saßen wir in einer kleinen Kabine, fuhren über die Häuser der Stadt, über Dächer und Minaretten hinaus, bis wir alles hinter uns ließen und um uns herum das Grün herrschte. Nur das Wetter hatte hier nicht mitgespielt. Es regnete, als wir aus der Gondel ausstiegen. Nebel herrschte, der Blick kaum 50 Meter weit. Wir machten einen kleinen Spaziergang bis zum Restaurant, kauften vom Händler handgemachte Zwillen für die Kinder. Im Lokal herrschte große Betriebsamkeit. Es war ein riesiger Laden auf zwei Etagen am Hang, große Fensterfront mit Sicht auf die unter uns liegende Stadt, nur dass wir heute nichts sehen würden. Neben uns überall Touristen aus dem arabischen Raum, mit allen Familienmitgliedern und vielen Kindern.  Link: https://www.teperestaurant.com/

Sicht über Ordu aus der Gondel






Die Türken sind verrückt nach Kindern, auch wenn die Männer, die hier bedienten, sehr viel zu tun hatten mit den Bestellungen; eine nette Geste oder ein freundliches Wort, eine streichende Hand über das Köpfchen eines lächelnden Kleinkindes oder ein Kniff an der dicken Backe eines Babys beim Vorbeigehen. Es ist fast so, als würden sie das intuitiv tun, als wäre das dazu gehörig, wie das Begrüßen der Erwachsenen, eben als spezielle Anrede für Kinder. Aus Deutschland kennt man das nicht und wer jetzt unangenehme Gedanken hat, dass sein Kind von Fremden betätschelt wird, dem kann ich versichern, dass diese Leute selber Kinder haben und dass es eben zur Kultur des Landes gehört, den Kindern große Aufmerksamkeit zu schenken. So wurde meine Tochter als Baby von jedem berührt oder angelächelt. Nun ist sie groß, sie wird nicht mehr angefasst, sie wird jetzt wie eine Erwachsene behandelt und gefragt, was sie essen möchte.

Ordu Teleferik istasyonu



Wir bestellten typische Gerichte aus der Region, die ähnlich schmecken wie aus meiner Heimat, die etwa 300 km weiter östlich liegt, wohin wir anschließend unsere Reise fortgesetzt haben. So kurz vor dem Ziel, unserem Dorf, war die Stimmung im Auto heiter und aufgeregt. Kinder fragten, wann wir ankämen. Die Lieder wurden nur noch aus der Region ausgewählt. Doch wir machten noch einen Halt in Giresun, um zuerst die alte Burg zu besichtigen und anschließend die berühmten Viertel der Stadt mit den historischen Häusern.

Freitag, 7. Dezember 2018

Das Meer und wir

Am nördlichsten Punkt der Türkei

























Wir verließen Sinop an einem stürmischen Tag. Auf unserem Programm stand der nördlichste Zipfel der Türkei, mit dem Leuchtturm, den mein Schwager unbedingt sehen wollte. Die Straße schlängelte sich aus den Häuserreihen hinaus, bergauf in einer kargen Landschaft, mit steilen Hängen zum Meer, die mit Gestrüpp bewachsen waren. An einer besonders schönen Stelle machten wir einen kurzen „Foto-Halt“, um die tosende Brandung zu sehen. Der Wind wehte so stark, dass er die Autotür gegen das Bein drückte, fast unmöglich, auszusteigen. Die Kinder ließen wir drinnen, aus Angst, sie könnten sich nicht gegen den Wind halten und weggeweht werden. Derweil beschwerte sich meine Tochter. Sie wollte Schwimmen gehen, was ich ihr versprochen hätte. Aber, woher sollte ich wissen, dass es so stürmen würde. Doch das Kind gab keine Ruhe. Wir beschlossen, uns aufzuteilen. Ich blieb mit ihr am Strand und meine Schwester fuhr mit ihrem Mann und ihrer Tochter zum Leuchtturm. 




Das Schwarze Meer
































Der Wind wurde am Strand zu einem Sandsturm. Wir gingen ins Wasser. Am Stand lagen die leeren Liegen, die zur Seite gedreht waren. Ein paar junge Männer und ein großer Straßenhund, ein Kangal-Hirtenhund-Mischling, waren die einzigen, die wie wir am Strand waren. Sonst hatten wir Meer und den langen Sandstrand für uns alleine. Das Wasser war relativ kalt; wir konnten nicht lange drinbleiben. Legten wir uns an den Strand, wurden wir augenblicklich vom Sand paniert. So wechselten wir uns ab, mal plantschten wir im erstaunlich ruhigen Wasser, mal lagen wir paniert auf der Liege. Der feine Sand verteilte sich schnell. Binnen Sekunden lag eine Schicht auf unserer Haut.

So vergingen Stunden, und der Wagen mit den anderen kam nicht. Weil wir mit nichts als unseren Handtüchern und Bikinis am Leib am Strand geblieben waren, machte ich mir Gedanken, was zu tun wäre, sollte das Auto überhaupt nicht mehr zurückkommen, aus welchen Gründen auch immer. Auch Daphne musste die gleichen Gedanken gehabt haben, denn sie erwähnte, das Auto wäre fort, und wir würden nun das ewige Spiel zwischen Meer und Sand bis zur Erschöpfung wiederholen. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gab es ein kleines Restaurant. Ich würde umhüllt in meinem Badehandtuch dorthin gehen und Hilfe holen. Am besten die Polizei anrufen lassen oder wen auch immer? Ich hatte mein Handy mit der gesamten Tasche im Auto gelassen und alle Telefonnummern ebenfalls.


Es war eine unglaublich selbstverschuldete dumme Situation, in der ich mich befand. Dazu noch meine Tochter, der ich Mut einreden musste, denn es reichte, wenn einer sich Sorgen machte. Es waren mehr als drei Stunden vergangen, wo wir zwischen kaltem Meer und Sandsturm abwechselten. Gott sei Dank kann Daphne nie genug vom Wasser bekommen. Wenn ihre Stimmung beim Liegen auf unserer Liege zu kippen drohte, wo ich sie fest umschlungen auf meine Brust drückte, damit sie keinen Sand in die Augen bekam, schlug ich ihr vor, Schwimmen zu gehen. Und augenblicklich löste sie sich aus der engen Umklammerung und rannte dem Sturm davon, ins Wasser. Nur war ich fast am Ende mit meinen Kräften. Noch eine Runde im Meer und dann ins Restaurant, dachte ich, als ich das Auto kommen sah. Endlich, Erlösung.

Der Grund der dreistündigen Verspätung: der Sturm hatte einen Strommast umgerissen, worauf die Leitung auf der Fahrbahn gelegen hatte. Der Wagen vor ihnen war nicht drübergefahren und hatte angehalten, wie auch mein Schwager. Wenig später war ein Wagen der Stadtwerke gekommen, hatte aber nichts unternommen und war auch nicht über die auf der Fahrbahn liegende Leitung gefahren, sondern umgedreht und weggefahren. Sie waren bereits auf dem Rückweg zum Strand und die Straße die einzige asphaltierte. Sie mussten umdrehen und Ackerwege nehmen, die sonst von Traktoren befahren werden. An einer Stelle hatte mein Schwager das Auto unten auch noch gegen einen großen Stein geschrammt, so dass es tropfte, als sie uns abholten.

Während sich Murat zusammen mit dem Besitzer der Liegestühle die Pfützen unter dem Auto ansahen, wobei dieser wie ein Sachverständiger mit seinem Feuerzeug überprüfte, ob sie entflammbar waren, also ob es Öl oder Benzin war, ging ich mit meiner Tochter zu den Duschkabinen, um den ganzen Sand von uns abzuwaschen. Zurück zum Auto fachsimpelten beide Männer immer noch. „Es sei kein Benzin“, sagte der Liegestuhlverleiher, aber mein Schwager solle auf jeden Fall zu „Sanayi Çarşısı“ hinfahren, eine Werkstättencity direkt vor der Stadt, wo sich sämtliche Autoreparaturhäuser versammelt hatten. Es gab die Straße der Peugeots oder der Renaults, und mit ein wenig Mühe und Nachfragen fanden wir auch die Werkstatt, die sich auf Volvo spezialisiert hatte. Kurz vor Feierabend kamen wir da an und der Meister lachte herzhaft, als mein Schwager ihm durch das offene Fenster seine Befürchtungen wegen den Tropfen erzählte. „Das ist bestimmt die angesammelte Flüssigkeit der Klimaanlage, aber ich schaue es mir mal an.“ Und außerdem, fügte er hinzu, sei der Volvo unten komplett zu, da hätte kein wichtiger Schaden entstehen können. Er lachte schelmisch und schaute zu den anderen in seiner Werkstadt und dann fragte er Murat, warum er sich keinen Geländewagen kaufte, denn er wäre so ein Geländewagentyp.


Mein Schwager lachte und gab ihm die 50 Lira. Wir amüsierten uns dann beim Fahren, stellten uns vor, wie er sich über uns lustig machte, den anderen Mitarbeitern von uns erzählte, wie er abends nach Hause ging und seiner Frau und seinen Kindern von uns berichtete, von uns Ahnungslosen, die nicht wussten, dass ein Volvo unten komplett dicht ist. „Da kaufen sie sich einen Wagen, wissen aber nichts über ihn.“, wird er den anderen erzählen und seine Zuhörer würden ihm zustimmen. „Abi, neulich kam einer zu mir“, wird ein Kollege den Ball aufnehmen und seine eigenen Erfahrungen mit Kunden berichten. Wir erzählten uns diese Möglichkeiten, wie unser Meister und seine Kollegen über uns lachen würden, und lachten selber von ganzem Herzen. Und das ging eine ganze Weile. Das ist ein wunderbarer Humor, den ich dort beobachten konnte. Ich glaube, hier würde so eine Situation anders verstanden werden. Die süffisanten Bemerkungen von dem Automechaniker würden vermutlich als kundenfeindlich empfunden werden und überhaupt würde sich kein Dienstleister so frech gegenüber einem Kunden geben. Wir genossen jedoch die Situation des dummen und ahnungslosen Kunden und lachten mit, fanden Argumente und weitere Anekdoten, was er über uns wohl so alles zu erzählen vermochte, und fuhren dabei Richtung Süden. Die grünen Berge ließen wir hinter uns. Die Serpentinen wurden anstrengend, die Landschaft kahl, wie ich sie aus meiner Kindheit kannte. Die ockerfarbenen Hügel, wo ich als Kind dachte, hier könnte man tolle Cowboy-Filme drehen. Eine ganze Weile begleitete uns rechts und links dieses sanfte Gelb. 

Passend zum Meer das Lied von Dario Morano "Deniz ve Mehtap"




Und später, als wir durch die gelbe Hügeln fuhren etwas besänftigendes. Zugegeben, meine Auswahl an Lieder waren selten aus der Türkei, weil ich diese Musik leider nicht sehr gut kannte. 



Der Weg ist immer das Ziel

Am nächsten Tag, kurz vor der Abreise, sind wir zu den drei konischen Grabstätten (Kümbet) gegangen, die aus der Zeit der Seldschuke...