Donnerstag, 7. Februar 2019

Batumi ბათუმი



Wohnhaus in Batumi

















Unser Dorf Mişona liegt in 400 Metern Höhe auf einem kleinen Berg, ganz in der Nähe der Provinzhauptstadt Rize. Früher, als mein Vater noch ein Kind war und keine Autostraße zum Dorf existierte, da liefen die Bewohner zu Fuß in die Stadt. Dazu mussten sie von unserem Dorf aus erst bergab und dann wieder einen ähnlich hohen Berg überwinden, denn erst dahinter war die Stadt. Es gab Fußpfade auf dem kürzesten Weg hin, im Gegensatz zur heutigen Autostraße, die zunächst vom Dorf hinunter zur Flussebene führt und dann am Meer entlang in die Stadt, die ebenfalls direkt am Meer liegt. Heutzutage läuft niemand mehr zu Fuß. Alle fahren mit dem Auto und die alten Pfade liegen brach. Ich hatte es mal gewagt, den alten Weg vom Fluss hinauf zum Dorf zu laufen, den ich als Kind mit meiner Oma immer gegangen war; nur war er verschwunden. Da, wo ich ihn vermutet hatte, wuchs die Vegetation, wucherte das wilde Grün.

Mein Dorf ist für Fremde nicht interessant. Es gibt dort keine Sehenswürdigkeiten, nicht mal das Wetter ist schön. Es regnet sehr viel und sehr häufig. Ich hatte nur einmal das Glück, dort in einem einwöchigen Urlaub im Meer zu baden, wobei man sagen muss, dass das nicht immer am Wetter lag. Es ist schwierig, mit vielen Erwachsenen und etlichen Kindern erstens einig zu werden und zweitens so ein Vorhaben wie „zum Meer“ zu fahren in die Tat umzusetzen. Oft lag es an der Organisation, seltener am Wetter.

So haben wir beschlossen, nach Batumi in Georgien zu fahren. Es gibt eine offene Grenze, sodass die Bevölkerung beider Länder ohne Pass die andere Seite besuchen kann. So machten wir uns mit dem Auto auf den Weg, parkten den Wagen auf der türkischen Seite und gingen zu Fuß rüber. Drüben gab es eine große Geschäftigkeit und jede Menge Möglichkeiten, weiter ins Landesinnere zu reisen. Selbst die Sprache war kein Problem, denn viele können dort Türkisch und auch recht gut Englisch. So fanden wir ein Großraumtaxi, das uns, fünf Erwachsene und zwei Kinder ins Stadtzentrum fuhr. Der ältere Fahrer stammte aus der Türkei, ein „Laz“, so wird die Menschengruppe bezeichnet, die neben dem Türkischen auch Georgisch sprechen.



An der Grenze zu Georgien


Was ich lange nicht wusste, dass eben hier, in dieser Region der Türkei, an der östlichen Schwarzmeerküste, drei weitere Sprachen gesprochen werden. Dazu gehören die „Romeika“, also das „Pontus-Griechisch“, „Hemşin“, ein Armenischer Dialekt und „Laz“, was ebenfalls eine Mundart des Georgischen ist. Ich selbst kann leider keine weitere Sprache, doch auch in meinem Dorf gibt es vereinzelt Wörter aus der „Romeika“. An der Grenzregion zu Georgien ist die Sprache identisch. Der einzige Unterschied ist, dass die Bevölkerung auf der türkischen Seite Moslems sind und auf der anderen Seite Christen. Seit Eröffnung der Grenze in den 90igern des vorigen Jahrhunderts herrscht ein reger Austausch in dieser Grenzregion. Als wir unseren Wagen geparkt hatten, reihten sich Busse aneinander, die die georgischen Saisonarbeiter zu türkischen Städten an die Schwarzmeerküste fahren. Männer und Frauen warteten kauernd auf dem Gehweg, neben sich ihre Sachen in Koffern, Taschen und Tüten. Sie kommen mit einem Dreimonats-Visum in die Türkei und arbeiten dort in verschiedenen Berufen, unter anderem bei der Teeernte.

Onkel Sinan, ein Großcousin meines Vaters hat drei Männer, die immer zu ihm kommen, bei ihm wohnen, während den Sommermonaten mit ihm leben, ihm sogar das Winzern auf die spezielle georgische Weise beigebracht haben, wobei der Wein in Tonkrügen unter der Erde begraben wird. Tagelöhner, wobei sie  für die dortigen Verhältnisse nicht schlecht verdienen. Es sind um die 100 Lira pro Tag, das entsprach in dem Sommer 30 Euro. Vor Ort haben sie keine weiteren Ausgaben, außer Zigaretten, sofern sie rauchen, aber die meisten rauchen. Essen und die Unterkunft ist kostenlos. Und wenn Sinan nicht viel zu tun hat, wenn seine Teeplantagen geerntet sind, pflücken sie Tee für andere. Damals, als ich meine Eltern im Dorf besucht hatte, hatte mein Vater die Männer für eine Woche im Einsatz. Sie schliefen zwar nicht bei uns, aber das Essen hatten wir zubereitet.

Hier warteten sie hockend auf dem Trottoir auf den Bus. Frauen kommen häufiger, um als Krankenschwester und Pfleger in privaten Haushalten zu arbeiten. Verwandte von mir hatten für ihre gebrechlichen Eltern eine georgische Krankenpflegerin organisiert. Es zerbrach mir das Herz, diese Menschen hier zu sehen. Manche hatten ihre Kinder dabei. Erinnerungen schossen hoch. War ich doch ebenfalls das Kind eines Arbeiters in einem fremden Land. Und wer weiß, wie viele der Menschen rastlos hin und her pendeln werden, so wie ich? Sie haben es wenigstens nicht sehr weit.


Batumi, Blick vom Restaurant am Hafen


Unser Taxifahrer jedenfalls war ein türkischer Bürger, der hier in Georgien lebte, der hier arbeitete, hier eine Wohnung und ein Haus gekauft hatte. Er bezog seine Rente aus der Türkei und lebte damit in Batumi, wie er sagte, viel besser, weil sein Geld mehr wert wäre. Seine Söhne und eigentlich seine ganze Familie waren ebenfalls nach Georgien gezogen.
So fuhr er uns in die Stadt, erzählte von den gewagten Bauprojekten der Investoren, die aus Batumi ein Las Vegas der Region machen wollten. Und in der Tat waren so einige merkwürdige Bauten darunter, unter anderem ein Haus, das auf dem Kopf stand. Er setzte uns in der Nähe des Hafens ab, wo sich die Altstadt befand. Und prompt landeten wir in der „Klein-Türkei“. Lauter Dönerläden, türkische Restaurants, türkisch sprechende Touristen, die genauso hungrig wie wir waren und weil nicht jeder aus meiner Familie so experimentierfreudig ist, landeten wir in einem der türkischen Restaurants.

Vermutlich war auch hier wie in anderen fremden Ländern, in denen sich die Restaurants dem Geschmack der jeweiligen Gaumen anpassen, das Essen etwas fad, weil insgesamt zu wenig Gewürze im Fleisch und der Suppe. In der, die ich bestellt hatte, war definitiv zu wenig Knoblauch und Chili. „Kelle paça“, eine Spezialität aus gekochtem Rindskopf, verträgt eine ordentliche Portion Knoblauch und sie darf ebenfalls recht scharf sein. Das Fleisch war allerdings sehr gut. Es war lange im Sud gekocht worden und zerfiel auf der Zunge, so wie es sein musste. Später, als der Hunger gestillt war und wir mehr von der Stadt gesehen hatten, kehrten wir in einem sehr schön gelegenen großen Restaurant direkt an einem kleinen Hafen ein. Wir ärgerten uns, denn hier hätten wir die Möglichkeit gehabt, typische georgische Gerichte zu probieren. Aber wir haben dort Bier und Brause getrunken.




Es gab nicht viele Gäste. Ein paar türkische Touristen wie wir. Die Altstadt war teilweise in türkischer Hand. Überall lateinische Buchstaben mit türkischen Hinweisschildern. Darüber hinaus Blockwohnhäuser aus der Sowjetzeit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie schön fand, auf jeden Fall bemerkenswert. Vier bis sechs Stockwerke hoch, eine Batterie an Wohnungen. Zur Straße hin Balkone. Das Bemerkenswerte war jedoch, dass die Fassade jeder Wohnung anders gestrichen oder anders ummantelt war. Bei einigen war es ein einfaches Wellblechkonstrukt, andere hatten eine Holztäfelung, wieder andere hatten ihren Wohnungsbereich bunt gefärbt, so dass für den Betrachter ein wilder Flickenteppich entstand. Zwischen zwei Blocks über die Straße hingen Wäsche an einer Leine. Etwas weiter sah man die Neubauten, Hotel und Spielhalle in einem. Diese lagen näher am Meer. In einer kleinen Straße war ein Bauernmarkt aufgebaut. Darin fanden sich kleine Mengen Obst und Gemüse; etwas weiter hatte ein Bierbrauer ein großes Bierfass auf einen Holzkarren gestellt und verkaufte sein Selbstgebrautes; ihm gegenüber ein Tabakbauer, der loses Rauchwerk feilbot. Zugegeben ungewöhnlich, zumal die Zigaretten hier nicht besonders teuer sind. Diese sind neben Alkohol Schmuggelgut Nummer zwei, die hier gekauft und auf der anderen Seite, in der Türkei, wo es eine hohe Alkohol-/ und Tabaksteuer gibt, weiterverkauft werden.
Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu und wir machten uns auf den Weg zurück zur Grenze. Nur waren wir sieben Personen und benötigten ein Großraumtaxi oder zwei Taxen. Am Stand wartete nur ein Wagen, ein sehr alter Mercedes, allerdings sehr gut gepflegt. Der junge Fahrer stieg aus und war der Meinung, er würde uns alle in den Wagen hineinbekommen. Wir mussten ihm nur mehr Geld geben, weil wir das Geld für das zweite Taxi ja sparen würden. Wir einigten uns auf den Preis und quetschten uns in den alten Benz. Vorne zwei, hinten drei nebeneinander und der Rest quer über die drei. Und als wir wie die Sardinen in der Büchse losfuhren, holte unser Fahrer von der Sonnenblende eine Ausflugskarte und meinte scherzhaft, ob wir nicht Interesse hätten, in die Berge zu fahren. Da lagen wir wirklich gequetscht übereinander und Schweiß floss in Schweiß über, doch den Witz fanden wir gut und lachten, soweit wir Luft holen konnten.


Blick aus dem überfüllten Mercedes auf der Rückfahrt


Die Grenze war furchtbar. Schon morgens, als wir rüber nach Georgien laufen wollten, hatte es uns zwei Stunden gekostet, weil, so die offizielle Entschuldigung, ein Computersystem ausgefallen sei. Wir standen dann stundenlang in der Sonne und warteten darauf, aus der türkischen Seite herausgelassen zu werden. Abends erwartete uns ebenso eine unglaubliche Schlange, die zum Teil durch die Baustelle verschuldet war, denn die türkische Seite hatte eingesehen, dass der Grenzübergang jetzt schon zu kollabieren drohte. (Also wird umgebaut und vergrößert.) Durch einen engen dunklen Korridor, unzählige Menschen zusammengepfercht, wo nirgends ersichtlich war, wo der Ausgang oder die Schalter waren, wodurch wir hinmussten – das jagte einem schon Panik ein. Dann eine totale Unruhe, vorne schrien die Polizisten, „Frauen und Kinder zuerst, Frauen und Kinder nach vorne“.

Schon drängelten sie von hinten, meine Schwester war am Rande einer Panikattacke. Wir, drei Frauen und zwei Kinder trennten uns vom Schwager und Bruder und liefen mit anderen Frauen und deren Kindern am engen Korridor entlang zwischen Massen von Männern zum Grenzhäuschen. Polizisten zogen die Kinder an einer kleinen Mauer hoch, denn durch die Baustelle kamen wir erst jetzt ins Hauptgebäude hinein. Drinnen Scangeräte für die Taschen und ebenfalls Schlangen. Doch die Beamten waren flott und haben uns durchgewunken. Es roch nach Alkohol, der irgendwo in dieser Halle kaputtgegangen war, vermutlich nicht gut verpackte Schmuggelware. Endlich hatten wir diese Odyssee hinter uns gebracht, trafen uns auf dem Parkplatz, doch wir mussten das Erlebte erst mal in aller Ausführlichkeit besprechen. Denn so machen das die Leute in der Türkei. Es wird sehr häufig darüber gesprochen. Meine Schwester dramatisierte heftig in ihren Erzählungen. Zugegeben; es war eng und unangenehm, aber das ist in einem überfüllten Rockkonzert nicht anders. Und immer, wenn sie anfing zu erzählen, dachte ich, wo war ich denn, als diese schrecklichen Dinge passierten. 

Und zum Schluss das berühmte Volkslied über Batum.








Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Der Weg ist immer das Ziel

Am nächsten Tag, kurz vor der Abreise, sind wir zu den drei konischen Grabstätten (Kümbet) gegangen, die aus der Zeit der Seldschuke...