Wir machten uns auf die Rückreise nach Istanbul, nur dieses
Mal über Anatolien. Unser erstes Ziel war Artvin. Der Weg ging erst durch die
typische Vegetation der Küste entlang, grüne sanfte Berge, die wir erklommen
und wieder entstiegen.
Je weiter wir ins Landesinnere fuhren, umso karger wurde die
Landschaft. Der Weg war zwar keine Autobahn, doch eine sehr breit gebaute
Landstraße. Nach etwa 2 Stunden Fahrt war das Grün in der Umgebung fast
verschwunden und wir fuhren entlang eines Flusses zwischen hohen Bergen.
Die Natur war hier weniger lieblich. Weit und breit nur
Steinfelsen, die wie eine hohe Mauer rechts und links der Straße vorragten. Wir
fuhren in einen Tunnel hinein, der recht neu gemacht aussah. Dann kam der
Schreck. Schon weit innerhalb des Tunnels konnten wir sehen, dass am Ausgang
riesige Steinblöcke herunterdonnerten und die Straße vor uns in Schutt und
Asche lag. Plötzlich wurde die Natur, die in mir ansonsten ein positives Gefühl
auslöste, zu etwas Düsterem. Als der Berg auf die Straße bröckelte, waren wir
froh, noch im Tunnel zu sein und nicht unter einem der Felsenblöcke. Mein
Schwager verlangsamte das Tempo. Das taten alle Autos vor uns, sichtbar durch
die leuchtenden Rücklichter. Schließlich kamen wir zum Stehen. Der Anfang der
Schlange war kurz vor dem Ende des Tunnels. Wir stiegen aus und liefen Richtung
Ausgang, von wo wir die fallenden Brocken sahen und die Gesamtsituation besser
begreifen konnten. Zu unserer Freude war das eine kontrollierte Sprengung. Am
rechten Hang, direkt hinter der Brücke krallten sich Maschinen an der Steinwand
fest und ließen Überschüssiges herunter, sodass oben im Felsen breite
Treppenstufen angelegt werden konnten.
Murat, mein Schwager, lief zu der Gendarmerie, die die
Sperrung bewachte. Hier in diesen Bergen, wo es keine nennenswerten Städte
gibt, außer ein paar kleine Ansammlungen von Dörfern, sorgt die Gendarmerie für
solche Polizeiarbeiten. Es hatte sich um die jungen Männer in Uniform bereits
eine Männertraube gebildet, die alle das gleiche wissen wollten: wann wird die
Straße wieder geöffnet? So erfuhren wir, dass die Aufräumarbeiten mindestens
noch eine Stunde dauern würden. Und Aufregung? Worauf oder warum sollten wir
uns aufregen? Wir liefen auf die Brücken zu und bewunderten die grandiose
Aussicht. Zwischen den kahlen Bergen ein grüner Fluss. Auf der rechten Seite,
wo der Fluss unter uns in der Kurve lag, um den Berg zu umfließen, worauf wir
standen, öffnete sich ein kleines schmales Tal, an dessen Hängen Zypressen
wuchsen. Und genau zwischen den hohen Zypressen entdeckten wir die Häuser eines
kleinen Dorfes. Was machen Menschen in diesen nackten Bergen, ging mir durch
den Kopf einerseits. Andererseits habe ich mich sehr gefreut, dass hier in der
Nähe Menschen lebten, dass wir nicht ganz verloren waren, und dieses wir bezog
sich auf alle anderen Autofahrer, die teils allein, teils mit ihren Familien
genauso herumlungerten wie wir. Die eine Stunde Wartezeit gestaltete sich recht
kurzweilig. Bei einer ähnlichen Vollsperrung auf einer Autobahn hätten wir mehr
zu leiden gehabt. Wir standen an der Brücke, beobachteten die Planierraupen,
die lärmend an den nackten Steinen kratzten, schauten auf den trägen Fluss, der
mit niedrigem Wasser dahinfloss. Nach einer Weile hörte das Rollen der
Felsblöcke auf und schwere Maschinen fingen an, die Fahrbahn vor uns zu
befreien. Sie schoben die riesigen Steine einfach runter zum Fluss, den dieser
Steinschlag jedoch kaum zu berühren schien.
Endlich konnten wir unsere Reise fortsetzen. Der Weg
schlängelte sich am Flussbett entlang, durch die Spalten der Berge hindurch und
wir näherten uns Artvin, einer kleinen Stadt, von der ich viel gehört, aber
auch etwas mehr erwartet hatte. Denn diese Stadt war auf einem einzigen Berg
aufgebaut, der wie ein etwas breiter Hinkelstein zwischen den anderen stand.
Wir bogen von der Landstraße ab und fingen schon an, den Berg zu erklimmen.
Eine Hauptstraße schraubte sich nach oben. Als Sehenswürdigkeit ist die
Wehrmauer bekannt. Wir folgten dem Schild und fuhren rechts ab in eine kleine
Gasse, die nicht lang war, und ehe wir etwas merkten, landeten wir plötzlich
vor dem Tor einer Militäranlage. Der bewaffnete Wachsoldat war sofort
alarmiert, doch als er genau in unseren Wagen hineinsah, eng befüllt mit
Kindern und Frauen, und mein Schwager ihm ebenso per Handzeichen zu verstehen
gab, dass wir uns geirrt hatten, wich die Panik von seinem Gesicht. Es war für
uns nicht nachvollziehbar, warum er so reagierte, allerdings werden in der
Türkei die Militäranlagen gerne als Zielscheibe von Terroristen ausgewählt. Und
häufig passiert das durch einen Wagen, der zum Gebäude fährt und dann die Bombe
gezündet wird. Insofern war seine Panik durchaus berechtigt. Und weil das eine
kleine und unbedeutende Stadt ist, wo sich nicht ständig Touristen irren, war
sein Verhalten uns gegenüber durchaus kühn. Wir entschuldigten uns abermals und
fuhren sofort weg. Dieser Bereich der Wehrmauer und des Turms wurden eindeutig
vom Mieter beherrscht und wir hatten auch keine Lust mehr, nach einer
Möglichkeit zu suchen, sie anderweitig zu erreichen. Auf diesen Schreck fuhren
wir noch eine Weile den steilen Weg empor und plötzlich wusste ich, warum
Evliyâ Çelebi über Artvin gesagt haben soll, er hätte bei seinem Besuch in der
Stadt Kaffee bekommen, doch fand er keine gerade Stelle, seine Tasse
abzustellen. Dieser Satz von dem großen türkischen Reisenden, beschreibt kurz
und knapp die Situation, die wir selbst erlebt haben. Es gab nichts in dieser Stadt,
außer die eine Hauptstraße, die umsäumt war mit Häuserreihen. Wir beschlossen,
wieder zurück zu fahren.
Später recherchierte ich die Geschichte von Artvin. Die
Stadt gehörte bis zur Gründung der Republik zur Provinz Rize. Während der
Durchsetzung von Atatürks Reformen hatte Rize heftigen Widerstand geleistet und
wurde deswegen unter anderem vom Meer aus zerbombt. Artvin dagegen hatte sich
sehr früh und willig den Truppen Atatürks angeschlossen und hatte sich treu
ergeben und alles wortwörtlich umgesetzt. Als Lob und Dank beschloss Atatürk
daraufhin, der Stadt den Status einer eigenständigen Provinz zu geben. Damit
dieser einsame Hügel nicht alleine zur Provinz ernannt wurde, übergab Atatürk
Teile der östlichen Provinz von Rize ebenfalls an Artvin. Somit hatte er mit
einem Stein zwei Vögel erledigt, sagt ein türkisches Sprichwort. Er hatte also
somit Artvin belohnt und Rize bestraft.
Wir fuhren wieder an der Landstraße vorbei, zwischen den
Felswänden, die teilweise an nackte Ärsche erinnern, die sehr dicht an uns dran
waren und unser Auto wirkte wie eine kleine Ameise, die die Reise zwischen
diesen Po-Hälften am Verlauf des Flussbettes entlang schlängeln ließ. Teilweise
waren die Kurven so scharf, dass wir den Verlauf der Straße nicht mehr gesehen
haben und meine Schwester vor Angst Schweißperlen auf der Stirn hatte, als sie
die Felswand sah, die die Straße verschluckt zu haben schien. So fuhren wir
langsam und bedächtig durch diese schlafenden Riesen, um sie nicht aufzuwecken.
Doch neben der Bedrohlichkeit hatten sie für mich auch eine gewisse
Erhabenheit. Und die Kahlheit war keineswegs gleich, die Farbe derer änderte
sich alle Viertelstunde, eine Freude fürs Auge.
Wir fuhren durch diese entblößte Landschaft, die Achtung
gebietend und gleichzeitig beunruhigend wirkte, obwohl es ein sehr schöner,
sonniger Tag war. Hin und wieder sah ich Zypressenanhäufungen auf einem Hang,
mit kleinen Häusern im Schatten dieser Bäume, eine grüne kleine Fläche, die wie
die Schambehaarung einer Frau wirkte. Und da hingen auch meine Gedanken,
streiften die Felswände, da fragte ich mich abermals, warum die Menschen in
dieser unwirklichen und feindseligen Landschaft lebten, was genau sie da
trieben? Konnten sie Landwirtschaft betreiben? Was gäbe es anzupflanzen und zu
ernten, wenn nirgends eine Ebene zu sehen war bei diesen Bergen, so nackt wie
Herrgotts Hintern? Viehzucht sagte mein Schwager, als ich meine tiefen Gedanken
den Mitreisenden eröffnete. Ziegen, sie sind anspruchslos. Hier lebten schon
immer Menschen, und vielleicht ist es wahr, was Herodot über Anatolien
berichtet hatte, vielleicht war das Land wirklich so grün, dass ein Affe von
Byzanz bis zum Mittelmeer ohne den Boden zu berühren von Ast zu Ast gehen
konnte. Vielleicht ist diese Mondlandschaft von Menschenhand gemacht, das erste
Vergehen an der Natur, die erste Gewalt, so dass sie hier ihr Grün verloren
hat, und nackt dasteht, uns mahnend ihre Blöße entgegen schleudert, „ja, macht
nur weiter so!“.
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